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Bedrohte Freiheit Demokratie im Pausenmodus: Wie der Krieg die Ukraine prägt

Die Ukraine ist viel freier und demokratischer als Russland. Doch der Krieg hat der ukrainischen Demokratie auch geschadet.

Als Russland die Ukraine überfiel, griffen Hunderttausende Bürger zur Waffe, um das Land zu verteidigen. Die Abgeordneten des nationalen Parlaments mussten eine weniger gefährliche, aber genauso wichtige Aufgabe anpacken. «Unsere Gesetze sind nicht für Kriegszeiten gemacht worden. Wir mussten deswegen unzählige Regelungen der neuen Situation anpassen – so etwa im Gesundheitswesen oder Bildungswesen», sagt Yulia Klymenko von der liberalen Oppositionspartei Holos.

Und sie fügt gleich ein Beispiel an. Vor dem Krieg durften maximal 27 Schüler in einer Klasse sitzen. Mehr war nicht erlaubt. Plötzlich aber waren da viele Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten und aus den Kampfzonen. «Wir mussten also die maximale Klassengrösse auf 41 anheben.»

Einig sind wir uns weiterhin, wenn es um den prowestlichen Kurs und um die Unterstützung für die Front, für die Armee geht.»
Autor: Yulia Klymenko Ukrainische Oppositionspolitikerin

Im Parlament habe im ersten Jahr nach Kriegsbeginn grosse Einigkeit geherrscht, sagt die Ökonomin, die einst stellvertretende Wirtschaftsministerin und Rektorin einer Kiewer Universität war. Nach einer Weile habe es wieder kontroverse Diskussionen gegeben. «Gerade was die Wirtschaftspolitik betrifft, gehen die Vorstellungen zum Teil stark auseinander. Über die Parteigrenzen hinweg. Einig sind wir uns jedoch weiterhin, wenn es um den prowestlichen Kurs und um die Unterstützung für die Front, für die Armee geht.»

Herausforderung für die Demokratie

Das ukrainische Parlament wird von der Präsidentenpartei «Diener des Volkes» beherrscht. Selenskis Leute verfügen über die absolute Mehrheit. Daneben gibt es mehrere Oppositionsparteien, Linke wie Rechte. In der Ukraine hat es in den vergangenen Jahrzehnten stets verschiedene Machtblöcke gegeben. Sich auch mal so richtig die Meinung zu sagen, gehört zur politischen Kultur des Landes.

Doch der Krieg hat der Meinungsvielfalt und somit auch der Demokratie geschadet. «Es gibt so gut wie keine freien Medien mehr, denn unter dem Kriegsrecht sind alle grossen Fernsehkanäle zu einem Sender zusammengeschlossen worden», sagt Klymenko. «Ich als Oppositionspolitikerin habe keine Möglichkeit, dort aufzutreten. Das ist nur für Selenskis Leute möglich.»

Klymenko (ganz rechts) 2022 mit ukrainischen Parlamentariernnen am WEF in Davos.
Legende: Das politische Leben sei praktisch zum Erliegen gekommen, schildert die Oppositionspolitikerin. Alle politischen Veranstaltungen seien wegen des Kriegsrechts verboten. «Ich kann zum Beispiel meine Wähler nicht treffen oder Versammlungen veranstalten.» Bild: Klymenko (ganz rechts) 2022 mit ukrainischen Parlamentarierinnen am WEF in Davos. Keystone/Gian Ehrenzeller

Eigentlich müssten die Ukrainerinnen und Ukrainer 2024 einen neuen Präsidenten wählen. Doch Selenski hat bereits klargemacht: Einen Urnengang wird es nicht geben. Aus Sicherheitsgründen. Selenski bleibt vorerst weiter im Amt.

Klymenko unterstützt diesen Entscheid. «Der Einzige, der eine solche Präsidentenwahl gewinnen kann, ist Selenski. Warum viel Geld ausgeben, um ihn wiederzuwählen?» Das habe keinen Sinn. «Aber später, wenn wir wieder freie Medien haben, Versammlungsfreiheit, wenn wir unsere Wähler treffen können und vor allem, wenn die Sicherheit der Wahl garantiert werden kann, dann soll gewählt werden.»

Ich bin nicht mal sicher, ob Selenski nach dem Krieg noch einmal kandidieren wird. Er wird wohl glücklich sein, wenn er sich in ein Spa-Hotel zurückziehen und in Ruhe ein Bier trinken kann.
Autor: Yulia Klymenko Ukrainische Oppositionspolitikerin

Der Krieg hat die ukrainische Demokratie gleichsam in einen Pausenmodus versetzt. Kritisch ist die Lage noch nicht, findet Klymenko. «Im Moment kommen wir noch klar. Es gibt weiter Diskussionen und Debatten im Parlament. Aber wenn der Krieg noch mehrere Jahre dauert, dann müssen wir wieder zurück zu demokratischen Standards.»

Und was die Oppositionspolitikerin auch glaubt: Präsident Selenski ist nicht der Typ, der sich an die Macht klammern wird. «Ich denke, er ist sehr müde vom Krieg. Ich bin nicht mal sicher, ob er nach dem Krieg noch einmal kandidieren wird. Er wird wohl glücklich sein, wenn er sich in ein Spa-Hotel zurückziehen und in Ruhe ein Bier trinken kann.»

Echo der Zeit, 28.12.2023, 18 Uhr;kobt

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