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Fünf Frauen verklagen den belgischen Staat
Aus 10 vor 10 vom 04.01.2024.
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Belgische Kolonialgeschichte Belgiens «Kinder der Sünde» fordern Entschädigung

Während der belgischen Kolonialzeit im Kongo wurden Kinder systematisch ihren Eltern entrissen. Nun fordern sie vom belgischen Staat eine Entschädigung. Doch dieser tut sich schwer mit seiner Vergangenheit.

Monique Bitu Bingi wurde die Kindheit geraubt. Vom belgischen Staat. Geboren wurde sie vor mehr als 70 Jahren im heutigen Kongo-Kinshasa. Damals war das Land eine belgische Kolonie. Und in der belgischen Rassentrennungsideologie durfte es ein Kind wie Monique nicht geben: ein Kind mit einer schwarzen kongolesischen Mutter und einem weissen Vater – eine sogenannte «Métisse».

Und weil es solche Kinder aus Sicht der belgischen Kolonialmacht nicht geben durfte, nahmen belgische Beamte die Kinder im Alter von weniger als fünf Jahren ihren Müttern weg und verschleppten sie in katholische Missionsstationen im Kongo. Auch in Burundi und Ruanda wurden Kinder zwangsplatziert. So wurden die Kinder zu Waisen, obwohl ihre Eltern am Leben waren. «Unsere Kindheit wurde zerstört», sagt Monique Bitu Bingi. «Wir hatten keine Familie, wir kannten keine Liebe, wir waren die Kinder der Sünde.»

Portrait Monique Bitu Bingi
Legende: Monique Bitu Bingi: «Wir hatten keine Familie, wir kannten keine Liebe.» SRF

Heute lebt Monique Bitu Bingi in der belgischen Kleinstadt Tongern. An ihrem Wohnzimmertisch sitzen auch Léa Tavares Mujinga und Simone Ngalula. Auch sie wurden im damaligen Belgisch-Kongo als Töchter von schwarzen kongolesischen Müttern und weissen europäischen Vätern geboren, auch sie entriss die belgische Kolonialmacht ihren Müttern, auch sie wuchsen in katholischen Missionsstationen ohne Eltern auf.

Metis-Kinder mit Nonne
Legende: Verschleppt und in die Obhut der belgischen Kolonialmacht und der belgischen Kirche gebracht: Tausende Kinder erlitten in Belgisch-Kongo dieses Schicksal. ZVG

«In der Nacht mussten wir auf kleinen Holzpritschen schlafen, ohne Matratzen», erzählt Léa Tavares Mujinga. «Wir hatten nicht mal Geburtsurkunden», sagt Simone Ngalula. Wer ihr Vater war, weiss sie bis heute nicht. Sie weiss nur, dass er ein belgischer Beamter gewesen sein muss und Vandenbroek hiess. Genaue Zahlen, wie viele Métis im Kongo in katholische Kinderheime verschleppt wurden, gibt es nicht. Laut Schätzungen dürften es in den 1940er- bis 1960er-Jahren aber Tausende gewesen sein.

Ich weiss nicht, wie ich überlebt habe.
Autor: Monique Bitu Bingi

Als der Kongo 1960 seine Unabhängigkeit erlangte, verliessen viele Belgier fluchtartig das Land, darunter auch die katholischen Missionarinnen und Missionare. Doch die zwangsplatzierten Kinder wurden zunächst zurückgelassen. Viele wurden im Krieg, der auf die Unabhängigkeit folgte, vergewaltigt und misshandelt.

«Ich weiss nicht, wie ich überlebt habe», sagt Monique Bitu Bingi. Ihre Kindheit prägt die drei Frauen bis heute. Gemeinsam mit zwei weiteren Frauen haben sie deshalb den belgischen Staat verklagt. «Der Staat hat unser Leben zerstört», sagt Léa Tavares Mujinga. «Wir wollen dafür eine Entschädigung.»

Léa Tavares Mujinga
Legende: Léa Tavares Mujinga: «Der Staat hat unser Leben zerstört. Wir wollen dafür eine Entschädigung.» SRF

Das Schicksal der «Métis» ist eines von vielen dunklen Kapiteln der belgischen Kolonialgeschichte im Kongo. Unter dem belgischen König Leopold II. wurde der Kongo im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert regelrecht ausgeplündert. Massenhaft kam es zu Morden, Vergewaltigungen und Verstümmelungen. Bis zu 13 Millionen Kongolesinnen und Kongolesen sollen laut Schätzungen getötet worden sein. Das offizielle Belgien tut sich mit der Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit bis heute sehr schwer. Noch im Jahr 2010 bezeichnete der frühere EU-Kommissar und belgische Aussenminister Louis Michel König Leopold II. als «ambitionierten Visionär» und «Helden».

Entschuldigungen reichen nicht aus. Jeder Erwachsene versteht das. Und der belgische Staat ist erwachsen.
Autor: Léa Tavares Mujinga

Der «Métis»-Prozess zwingt die belgische Justiz und die belgische Politik dazu, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Bis zum Beginn des Prozesses war ihr Schicksal der breiten belgische Öffentlichkeit kaum bekannt. Erst seit Kurzem können sie im belgischen Staatsarchiv nach ihrer Herkunft forschen, viele kennen nicht einmal das genaue Jahr ihrer Geburt. Und bis sich Charles Michel, der Sohn von Louis Michel und damaliger belgischer Ministerpräsident, im belgischen Parlament offiziell bei den «Métis» entschuldigte, dauerte es bis 2019.

Aus Sicht von Léa Tavares Mujinga ist das nicht genug: «Entschuldigungen reichen nicht aus. Jeder Erwachsene versteht das. Und der belgische Staat ist erwachsen.»

Die erste gerichtliche Instanz hat die Klage der Frauen abgewiesen. Die Fremdplatzierung sei während der Kolonialzeit kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen, so das Gericht. Der Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sei erst 1999 ins belgische Recht aufgenommen worden. Eine rückwirkende Verurteilung sei deshalb nicht möglich.

Simone Ngalula
Legende: Simone Ngalula: «Wir hatten nicht mal Geburtsurkunden.» SRF

Die Klägerinnen und ihre Anwältinnen und Anwälte wollen das nicht akzeptieren. Zurzeit läuft das Berufungsverfahren. Es sei ein historischer Prozess, sagt die Anwältin Michèle Hirsch, die die Frauen vor Gericht vertritt. Eine Entschuldigung reiche in einem Rechtsstaat, wie es Belgien einer sei, nicht aus. «Dieser Prozess ist mit grossen Erwartungen unserer Klientinnen an die Würde des Staates verbunden.» Der belgische Staat habe seine Fehler eingestanden. «Es wäre würdig, wenn er diesen Weg auch bis zum Ende geht und die Opfer dieses Staatsverbrechens entschädigt», sagt die Anwältin.

Bei Monique Bitu Bingi, Léa Tavares Mujinga und Simone Ngalula kommen mit jeder Aussage vor Gericht und jedem Interview die schmerzhaften Erinnerungen an ihre Kindheit wieder hoch. Dennoch wollen sie nicht schweigen und den Prozess bis zum Schluss gehen. An das Berufungsurteil haben sie klare Erwartungen. «Der Staat muss die Verantwortung übernehmen», sagt Monique Bitu Bingi stellvertretend für alle drei. «Wenn er das nicht tut, wäre das grausam – sehr grausam.» Die drei Frauen hoffen, dass Belgien den Worten der Entschuldigung Taten folgen lässt und für seine Kolonialverbrechen im Kongo auch zahlen wird.

10 vor 10, 04.01.24, 21:50 Uhr;kobt

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