Zum Inhalt springen

Bericht zu den Menschenrechten Amnesty-Chefin: «Die Freiheit der Bevölkerung schwindet überall»

Der Befund im Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist düster. Weltweit stehen die Menschenrechte gewaltig und in wachsendem Mass unter Druck. Die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, ordnet ein.

Agnès Callamard

Generalsekretärin von Amnesty International

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Agnès Callamard ist seit 2021 die Generalsekretärin von Amnesty International. Die 58-jährige Französin arbeitete zuvor als UNO-Sonderberichterstatterin. In dieser Funktion wies sie der obersten Führung Saudi-Arabiens die Schuld am Mord des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi zu.

SRF News: Wird tatsächlich alles immer schlimmer punkto Menschenrechte?

Agnès Callamard: Nicht alles war negativ im vergangenen Jahr. Die Antwort der Staatengemeinschaft auf den russischen Überfall auf die Ukraine war aussergewöhnlich und sollte als Vorbild dienen. Auf einmal wurden die internationale Ordnung und das Völkerrecht hier wieder ins Zentrum gestellt, Gerechtigkeit und der Respekt der Menschenrechte wurden gefordert. Bedauerlicherweise werden diese Prinzipien nicht auch auf andere Konflikte angewendet.

Welches sind die aktuell grössten Probleme?

Das Problem ist, dass die Mehrheit aller Regierungen freiheitsfeindliche Massnahmen ergriffen hat – in der Praxis und in der Gesetzgebung. Besonders gravierend ist das in Ländern wie Afghanistan oder Iran, aber auch im Westen, etwa wenn Grossbritannien das Recht zu demonstrieren einschränkt. Die Freiheit der Bevölkerung schwindet überall. Überall!

Was sind denn aus Sicht von Amnesty International die Ursachen dafür?

Die Menschheit steht derzeit gleich mehreren existentiellen Krisen gegenüber: dem Klimawandel, dem Konflikt zwischen den Grossmächten USA, China und Russland, der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung oder der Zunahme des Hungers.

Der demokratische Raum schrumpft.

Die Spannungen innerhalb von Ländern und zwischen Ländern nehmen zu. Immer mehr Leute sind wütend. Auf diese Wut antworten die Regierungen mit Repression, um ihre Macht zu verteidigen. Das Ergebnis: Der demokratische Raum schrumpft. Selbst demokratische Staaten messen der Verteidigung der Menschenrechte nicht mehr dieselbe Bedeutung zu. Es ist scheinheilig, wenn Regierungen zwar im Fall Ukraine auf völkerrechtliche Prinzipien pochen, diese aber in anderen Fällen – und oft auch im eigenen Land – nicht hochhalten.

Amnesty-Recherchen werfen den ukrainischen Streitkräften vor, die eigene Bevölkerung als Schutzschilde zu missbrauchen...

Wir sind nicht die einzigen, die auch der ukrainischen Seite Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Aber wir sagen zugleich, dass das Ausmass an solchen Verletzungen seitens der Russen ungleich grösser ist. Es geht da um eine Vielzahl von Verbrechen, während es seitens der Ukraine um punktuelle Fälle geht.

Neben Frieden und Entwicklung sind die Menschenrechte der dritte Grundpfeiler der UNO. Ist das auch in der Praxis so?

Es braucht eine Stärkung der Menschenrechtspolitik in der UNO. Derzeit fliessen weniger als fünf Prozent des UNO-Budgets in diesen Bereich. Dazu kommt: Der UNO-Sicherheitsrat erfüllt seine Kernaufgaben nicht.

Der UNO-Sicherheitsrat muss reformiert werden.

Er ist durch das Veto von Grossmächten blockiert. Durch das russische im Fall der Ukraine, das chinesische im Fall Myanmar oder das amerikanische im Fall Palästina. Der UNO-Sicherheitsrat muss reformiert werden.

Gibt es trotzdem Entwicklungen, die Ihnen Hoffnung machen?

Absolut. Weil trotz aller Repression, trotz aller Einschränkungen von Grundfreiheiten die Menschen das nicht hinnehmen. Sie wehren sich weiter. Ich als privilegierte Frau aus dem demokratischen Frankreich darf doch nicht klein beigeben, während die Frauen im extremen Unterdrückerstaat Iran mutig kämpfen, während sich afghanische Frauen für das Recht zu studieren oder zu arbeiten wehren. Aufgeben ist keine Lösung.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

HeuteMorgen, 28.03.2023, 6 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel