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Europäischer Gerichtshof Urteile um Menschenrechte – doch Russland foutiert sich darum

Nach dem Überfall auf die Ukraine wurde Russland aus dem Europarat hinausgeworfen. Dennoch behandeln die Strassburger Richter weiter Klagen von russischen Bürgerinnen und Bürgern gegen Russland. Was bringt das?

Vor wenigen Tagen erst entschieden die Strassburger Richter über einen besonders brisanten Fall. Sie verurteilten Russland wegen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit. Denn der russische Staat weigert sich, gleichgeschlechtliche Paare rechtlich in irgendeiner Weise anzuerkennen. Damit verletzt er Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention über die Respektierung des Privat- und Familienlebens.

Doch weshalb urteilt der Gerichtshof weiterhin in Fällen aus Russland? Das Land wurde bereits im Frühjahr vorigen Jahres suspendiert aus allen Organen des Europarats. Erstaunlich rasch und erstaunlich deutlich. Kurz darauf erfolgte dann der definitive Hinauswurf. Sechs Monate später, Mitte September 2022, wurde er rechtswirksam.

Trotzdem unterliegt Russland weiterhin der Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). «Zwar nicht für neue Klagen, aber für all jene, die auf Sachverhalte zurückgehen, die vor dem vergangenen Herbst passierten», erläutert Gerichtspräsidentin Siofra O'Leary.

Und das sind viele, sehr viele Fälle. Nämlich rund 16'700. Aus keinem anderen Mitgliedsland des Europarats – mit Ausnahme der Türkei – wandten sich so viele Menschen an Europas obersten Menschenrechtsgerichtshof wie aus Russland. Und bekamen dort sehr häufig Recht.

Russland respektiert Strassburger Urteile nicht

Moskau hat früher mehrheitlich die Urteile aus Strassburg respektiert und im Einzelfall umgesetzt. Hingegen zog es kaum je grundsätzliche Lehren für die russische Rechtsordnung und Rechtsprechung, weshalb das Land wieder und wieder für dieselben Dinge verurteilt wurde. Russland müsste eigentlich die Strassburger Urteile weiterhin respektieren und nationale Fehlentscheidungen korrigieren. Tut es aber nicht.

Für Gerichtspräsidentin O'Leary steht dennoch fest: «Die Strassburger Richter müssen weiter Urteile fällen, obschon sich Russland seit seinem Ausschluss aus dem Europarat weigert, mit dessen Schlüsselinstitution, dem EGMR, zusammenzuarbeiten.» Es gibt auch keinen russischen Richter mehr in Strassburg.

Auf die Frage, ob all die jetzt noch kommenden Urteile des EGMR zu Russland überhaupt noch sinnvoll seien, meint Siofra O'Leary: «Natürlich hat man Zweifel, aber man muss seine Arbeit tun.» Sie ist überzeugt: «Diese Urteile haben einen grossen Wert.» 

Diese Urteile haben einen grossen Wert.
Autor: Siofra O'Leary Gerichtspräsidentin, EGMR

Selbst wenn der Kreml und die russischen Behörden sie ignorieren, so zeigen sie doch Russinnen und Russen, auf welche Rechte sie eigentlich Anspruch hätten. Und sie verschaffen von russischen Gerichten zu Unrecht Bestraften zumindest moralische Genugtuung. Auch symbolische Siege sind Siege. Und möglicherweise erhalten die Kläger irgendwann sogar Schadenersatzzahlungen aus eingefrorenen russischen Vermögen.

Rendez-vous, 01.02.2023, 12:30 Uhr

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