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Brasilien in der Corona-Krise «Der Präsident selbst stachelt zur Gewalt gegen Journalisten an»

Politikprofessor Mauricio Santoro analysiert die Lage in Brasilien und malt ein düsteres Bild: Das Land steckt in einer tiefen Krise.

Über eine halbe Million Infizierte, 30'000 Tote – Corona hat Brasilien fest in der Hand. Die Epidemie spaltet das Land auch politisch: Trifft Präsident Jair Bolsonaro die richtigen Entscheidungen? Und die ärmsten Menschen in den Favelas leiden. Der brasilianische Politikwissenschaftler Mauricio Santoro beantwortet die drängendsten Fragen.

Mauricio Santoro

Mauricio Santoro

Politikwissenschaftler

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Der Professor für Politikwissenschaften Mauricio Santoro lehrt an der Universidad do Estado do Rio de Janeiro (UERJ).

SRF: Wirtschaftkrise, politische Krise, Corona-Virus: Was könnte Brasilien unter diesen komplizierten Vorzeichen bald bevorstehen?

Mauricio Santoro: Tatsächlich befinden wir uns in einer Dreifach-Krise. Das Szenario könnte bald ähnlich wie in den USA sein: Viele Corona-Tote und Konflikte auf den Strassen mit gewaltsamen Demonstrationen. Dazu ein Präsident im Streit mit den Gouverneuren. Wie in den USA ist die Antwort der Regierung auf die Corona-Krise völlig ungenügend. In beiden Ländern glauben die Präsidenten nicht an die Wissenschaft, wollen, dass die Menschen arbeiten gehen.

Auf den Strassen gibt es Proteste für und gegen den Präsidenten. Verstärkt sich in der Corona-Krise die Polarisierung im Land?

Die Proteste gegen Bolsonaro werden immer lauter, auch die Forderungen nach einer Amtsenthebung. Gleichzeitig hat der Präsident noch immer genug Unterstützer, um ein mögliches Impeachment zu verhindern. Ich glaube aber, dass die Regierung Bolsonaro es schwer haben wird, bis zum Ende des Mandats im Jahr 2022 zu regieren. Stand heute wird die Wirtschaft in diesem Jahr um fünf Prozent einbrechen. Amtsenthebungsverfahren hatten bisher vor allem dann Erfolg, wenn sie in einer wirtschaftlichen Rezession angestossen wurden.

Bolsonaros Anhänger sagen, sie verteidigen einen gewählten Präsidenten, also die Demokratie.

Sie verteidigen Bolsonaro. Er tut in ihren Augen das Richtige: Das Land muss raus aus der sozialen Isolation, die Leute müssen zurück an die Arbeit. Er ist in ihren Augen der einzige ehrliche Mann im Land, der gegen ein korruptes System kämpft. Es ist zu befürchten, dass die Demokratie immer weiter geschwächt wird, etwa durch ständige Attacken gegen die Medien, den Kongress und den Obersten Gerichtshof. Für diese demokratischen Institutionen wird es immer schwerer, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Zwei grosse brasilianische Medien haben schon beschlossen, nicht mehr zu berichten.

Unser Kamerateam wurde in Rio verhaftet, als es eine Demonstration von Bolsonaro-Anhängern vor dem chinesischen Konsulat gefilmt hat.

Davon habe ich gehört. Die Polizei hat keine Demonstranten verhaftet, sondern beschlossen, die Presse habe gegen das Versammlungsverbot in der Quarantäne verstossen. Das ist absurd, denn selbst in einem Lockdown-Szenario haben Journalisten das Recht, zu berichten.

Es ist ein Beispiel dafür, wie die Polizei zu Bolsonaro steht. Der Präsident selbst attackiert die Presse, stachelt zur Gewalt gegen Journalisten an. Zwei grosse brasilianische Medien haben deshalb schon beschlossen, nicht mehr zu berichten, wenn Bolsonaro vor seinem Palast in Brasilia mit der Presse spricht.

Video
Aus dem Archiv: Brasilien in Aufruhr
Aus Tagesschau vom 01.06.2020.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 1 Sekunde.

Sie haben gesagt, Sie rechnen mit Konflikten auf den Strassen. Das heisst: massive Proteste, trotz Corona?

Wut und Frustration haben sich angestaut. Auch die Geschehnisse in den USA heizen die Situation weiter an. In Rio gab es schon erste Demos gegen Rassismus und Polizeigewalt, obwohl das Ansteckungsrisiko längst nicht unter Kontrolle ist. Ich glaube, grosse Proteste sind dennoch unvermeidbar und auch Zusammenstösse zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten.

Was wiederum Sorge bereitet: Die Polizei in Brasilien ist stark politisiert, steht zu einem grossen Teil hinter dem Präsidenten. Sie könnte Teil des Problems werden. Das ist ein Unterschied zu den USA: Dort sehen wir nun auch Polizisten, die sich niederknien, Respekt vor Demonstranten zeigen.

Frauen mit Maske stehen in einer Reihe.
Legende: Warten auf etwas zu essen: Viele Favela-Bewohner sind auf Nahrungsmittel angewiesen, um die Quarantäne einhalten zu können. SRF/Gonzalo Gaudenzi

Was könnte Brasilien in dieser schwierigen Situation helfen?

Wir brauchen Massnahmen gegen die Corona-Krise: Social Distancing, massive Tests, ein Grundeinkommen für die, die es dringend benötigen, Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen. Solche Hilfen gibt es schon, aber sie kommen nicht wirklich an. Wir haben renommierte Forschungseinrichtungen, ein öffentliches Gesundheitssystem – aber dieses Potenzial wird nicht genutzt.

Die politischen Konflikte schwächen die Antwort auf die Corona-Krise. Deshalb erwartet uns wohl tatsächlich ein tragisches Szenario wie in den USA. Mein Facebook gleicht schon jetzt einem Totenregister, voll mit Trauernachrichten.

Das Gespräch führte Karen Naundorf.

10vor10, 03.06.2020, 21.50 Uhr;

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