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Leben und Sterben mit Corona in Brasilien
Aus 10 vor 10 vom 03.06.2020.
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Brasilien in die Krise Das Virus vertieft die Gräben im Land

Mehr als eine halbe Million Infizierte und ein General als Gesundheitsminister: Brasilien ist auf dem Weg ins Chaos.

Kelly Martins Oliveira ist mit einem Pick-Up in die Favela gekommen, auf der Ladefläche liegen Reis, Speiseöl, Zucker, Putzmittel und auch Toilettenpapier. Sie hat genug für 50 Familien dabei, 300 würden jedoch diese Güter benötigen.

Ihr Ziel: Auch jenen eine Quarantäne ermöglichen, für die zuhause bleiben ein Luxus ist. Die meisten Bewohner von Rios Favelas leben von der Hand in den Mund. Wer nicht arbeiten geht, muss hungern.

Favela, viele Gebäude aus der Luft fotografiert.
Legende: Sorge bereiten vor allem die Bewohner der Favelas: Social Distancing ist hier ein Ding der Unmöglichkeit. Viele Menschen wohnen auf engem Raum zusammen, oft ohne sauberes Wasser zum Händewaschen. Mehr als 13 Millionen Menschen in Brasilien leben in Favelas. Romenique França

Martins Oliveira stammt selbst aus der Favela, arbeitete sich hoch. Heute engagiert sie sich für eine Stiftung. Zwar hat der Staat in der Corona-Krise eine monatliche Unterstützung von umgerechnet 100 Franken beschlossen, doch das sei zum Leben zu wenig und das Geld komme längst nicht bei allen an.

Grosses Vorbild: Donald Trump

Die siebenfache Mutter ist wütend auf den Präsidenten, der sich immer wieder ohne Mundschutz unter seine Anhänger mischt: «Eine kleine Grippe hat er das Virus genannt!» Ihre Befürchtung: Bolsonaros Sorglosigkeit könnte sich auf die Menschen in den Favelas übertragen, schon jetzt würden sich viele nicht an das Social Distancing halten.

Niemand weiss, wie viele Menschen in den Armenvierteln sich bereits angesteckt haben. Denn es wird viel zu wenig getestet. Zwei Gesundheitsminister, beide waren Mediziner, sind schon gegangen in der Corona-Krise. Denn Jair Bolsonaro redet das Virus immer wieder klein, rügt Gouverneure, die Quarantäne-Massnahmen vorantreiben.

Wie Donald Trump verspricht Bolsonaro sich von dem Malaria-Medikament Hydroxychloroquin Hilfe in der Pandemie – eine ziemlich umstrittene Angelegenheit. Der aktuelle Gesundheitsminister ist ein General mit Erfahrung im Logistik-Bereich, laut Bolsonaro ein «erstklassiger Manager» – der auch in Sachen Hydroxychloroquin hinter dem Präsidenten steht.

Wirtschaft oder Menschenleben retten?

Natürlich hat Bolsonaro recht, wenn er sagt, die Armen brauchten Geld zum täglichen Überleben, er wolle «Menschenleben und Wirtschaft retten». Doch seine Kritiker fragen zurück: Ist die einzige Lösung wirklich, die Armen weiter arbeiten gehen zu lassen? Dass sie so eine Ansteckung riskieren – für sich selbst und ihr Umfeld? Der Präsident wiederum verweist auf die Wirtschaft, die auch ohne konsequenten Lockdown bereits in eine Krise taumelt.

Zwar sind die Zustimmungswerte für den Präsidenten in der Corona-Krise leicht gesunken. Doch laut Umfragen steht ein harter Kern von rund einem Drittel der Brasilianer fest hinter ihm.

Bolsonaro nimmt niemandem seine Rechte weg.
Autor: Marlon Aymes Anhänger von Bolsonaro

So etwa Marlon Aymes, ein Grafik-Designer, der einer rechtsgerichteten Gruppierung angehört. Er ist gegen Quarantäne-Massnahmen: Diese würden die Wirtschaft ausbremsen und die bürgerlichen Freiheiten einschränken.

«Bolsonaro wird oft als Extremist oder Verrückter dargestellt. Aber bis jetzt hat dieser verrückte Extremist niemandem seine individuellen Rechte weggenommen. Im Gegenteil: Er wollte der Bevölkerung das Recht zurückgeben, sich zu bewaffnen, aber das wurde vom Obersten Gericht und vom Kongress verhindert.» Aymes befürchtet Plünderungen und Überfälle auf Wohnhäuser, wenn die Not in den Armenvierteln noch grösser werden sollte.

Das Virus vertieft die Gräben im Land, die schon lange vor der Pandemie existierten. Längst haben Oppositionsvertreter insgesamt 35 Anträge auf eine Amtsenthebung des Präsidenten eingereicht. Bolsonaro-Anhänger und Gegner gehen trotz Corona demonstrieren, in verschiedenen Städten, auch schon zeitgleich

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Ein Corona-Toter pro Minute

Die Sorge vieler Beobachter: Mehr Chaos im Land könnte einen vermehrten Einsatz der Sicherheitskräfte rechtfertigen. Schon jetzt stützt sich Bolsonaros Regierung auf das Militär. Richter Celso de Mello verglich in einem Schreiben an seine Kollegen vom Obersten Gerichtshof die Situation in Brasilien gar schon mit der Weimarer Republik und forderte dazu auf, sich «der Zerstörung der demokratischen Ordnung entgegenzusetzen».

Mitten in der Pandemie hat Rio de Janeiro in dieser Woche Wassersport im Meer wieder erlaubt. Und das, obwohl Experten davon ausgehen, dass die Zahl der Infizierten siebenmal höher liegen könnte als die offizielle Ziffer von mehr als einer halben Million.

Friedhof von oben.
Legende: In der Stadt Manaus im Amazonasgebiet ist das Gesundheitssystem längst überfordert, die Zahl der Toten stark angestiegen. Auf dem Friedhof werden täglich neue Grabstätten ausgehoben. SRF/Michael Dantas

Kelly Martins Oliveira, die Helferin aus der Favela, befürchtet, dass Corona zu einem «Massaker in den Armenvierteln» führen könnte, «in ganz Brasilien». Daran sei nicht nur Bolsonaro schuld, sondern auch das unterfinanzierte und chronisch überlastete Gesundheitssystem, das an vielen Orten schon jetzt kurz vor dem Kollaps steht. Am Donnerstag starben in Brasilien 1349 Menschen innerhalb von 24 Stunden an Corona, das ist etwa einer pro Minute.

10vor10, 03.06.2020, 21:50 Uhr

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