Es bleibt Angela Merkels Geheimnis, warum sie gegen alle Widerstände ihrer Partner an der Pipeline Nord Stream 2 festgehalten hat. Denn Deutschland und vor allem seine Kanzlerin werden nicht müde zu betonen, dass sie wie kaum sonst jemand für eine multilaterale Weltordnung einstehen. Nun hat Berlin gegen den Willen der USA, Grossbritanniens, Frankreichs, Polens, der Ukraine, der baltischen Staaten seine nationalen Interessen durchgeboxt und Europa gespalten.
Nutzen ist umstritten
Unilateraler und nationaler hat sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten kaum je verhalten. Was ist an dieser deutsch-russischen Pipeline so wichtig, dass sie für Berlin von höchstem nationalen Interesse ist? Das bleibt Merkels Geheimnis, umso mehr als der ökologische und längerfristige wirtschaftliche Nutzen – vorsichtig gesagt – umstritten ist.
Und die sinkenden Strompreise für die Kunden in Deutschland werden ja hoffentlich auch nicht ausschlaggebend gewesen sein. Wahrscheinlich auch nicht allein die möglichen milliardenschweren Schadenersatzzahlungen an die beteiligten Firmen bei einem Stopp.
Bidens Kalkül
Gestern war es allerdings zu spät, das Projekt zu stoppen. 98 Prozent der Pipeline sind fertiggestellt. Die Sanktionsdrohungen republikanischer US-Senatoren machten es Deutschland sowieso unmöglich nachzugeben. Ein Einknicken Berlins hätte Deutschland erpressbar aussehen lassen.
US-Präsident Biden hat die Pipeline offenbar abgehakt. Er hat einen «bigger fish to fry», ein wichtigeres Anliegen. Er versucht, den Westen in der Auseinandersetzung mit Russland und China zu einen. Und wahrscheinlich setzt er auch auf einen Neustart in den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Denn der ehemalige Präsident Donald Trump hatte Deutschland vier Jahre lang zu seinem Lieblings-Bösewicht und -Sündenbock auserkoren.
Doch die Versprechungen an die Ukraine und die möglichen Sanktionen bei einer möglichen russischen Bedrohung der Ukraine sind so schwach, dass sie die osteuropäischen Länder von Bidens Narrativ eines geeinten Westens kaum überzeugen werden. Zufall oder nicht: Vor wenigen Tagen hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erstmals in seiner Amtszeit mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping telefoniert.