«Der Mann sieht aus wie ein Schülersprecher», spottete ein altgedienter Parlamentarier, als der 25-jährige Newcomer Philipp Amthor (CDU) ans Rednerpult im Bundestag trat. Doch der erfahrene Politiker hätte gewarnt sein müssen, denn der neue CDU-Abgeordnete hatte als Jüngster von 709 Frauen und Männern im gesamten Bundestag ein sog. Direktmandat gewonnen und war in seinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern, einer Hochburg der AfD, mit den meisten Stimmen direkt für die CDU in den Bundestag gewählt worden. Eine Viertelstunde nach seinem Auftritt im altehrwürdigen Reichstag war Philipp Amthor für die Politikinteressierten in ganz Deutschland ein Begriff.
Sachliche Attacke, oder…
Anlass für seine Rede war ein Antrag der AfD für ein deutschlandweites Verhüllungsverbot. Amthor wagte einen riskanten Spagat. Er sei auch für ein Verhüllungsverbot, also gegen die Burka und Niqab, sagte er in den Applaus der AfD hinein, um die AfD-Fraktion dann unvermittelt zu attackieren.
Es kann nicht sein, dass wir konservative Themen aufgeben, nur weil die AfD ein Thema besetzt.
Der Jurist Amthor argumentierte mit Sachargumenten und warf der AfD vor, «völligen Unsinn» zu erzählen, obwohl ein Viertel der Fraktion Juristen seien. Die AfD habe nicht einmal das wissenschaftliche Gutachten des Bundestags gelesen, dass dem Vorstoss der AfD Verfassungswidrigkeit bescheinige. «Völliger Unsinn, hören Sie mir mal zu, dann können Sie noch was lernen», spottete der 25-Jährige. Die Verfassung gelte für alle, nicht nur für Moslems, auch für Deutsche und ein Verhüllungsverbot sei nur zulässig, wenn es auch mit der Verfassung übereinstimme.
«Es kann nicht sein, dass wir konservative Themen aufgeben, nur weil die AfD ein Thema besetzt», argumentiert Amthor im Gespräch mit Radio SRF. Aber wenn die CDU ein Verhüllungsverbot fordere, müsse das verfassungsrechtlich wasserdicht begründet sein und nicht durch populistische Argumente.
…heiliger Zorn
Eine ganz andere Taktik wählte der populäre Abgeordnete der Grünen, Cem Özdemir. Er attackiert die AfD unter dem Jubel seiner Fraktion mit heiligem Zorn. Anders als die CDU können sich die Grünen ein solches Vorgehen leisten, weil kaum ein grüner Wähler zur AfD übergelaufen ist. Die CDU aber hat eine Million Wähler an die AfD verloren. Gerade in Mecklenburg-Vorpommern gibt es Wahlkreise, «in denen jeder Vierte AfD gewählt hat», sagt Amthor.
Pauschale Angriffe kann er sich nicht leisten, wenn er Wähler zurückgewinnen will. Welche Taktik mehr Erfolg verspricht, darüber sind sich die Fraktionen noch nicht einig. Man wolle die AfD nicht zur Märtyrerin machen, sagen alle.
Pures Gold für die AfD
Für die AfD ist der Einzug in den Bundestag Gold wert. Nicht nur, dass die staatlichen Fördergelder fliessen, die AfD-Auftritte im Bundestag haben auch enorme Resonanz bei den Anhängern der AfD und sind wahrscheinlich in den Sozialen Medien enorm populär. Die AfD versucht denn auch vor allem mit Symbolpolitik ihre Anhängerschaft zu mobilisieren, egal ob eine Umsetzung realistisch ist. Die anderen Parteien lassen sich jedenfalls provozieren und kontern mehr oder weniger rhetorisch geschickt.
Nur scheinbare Normalität
Mit der Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin und der dritten Grossen Koalition in der Ära Merkel ist scheinbar wieder Normalität in Deutschland eingekehrt. Deutschland ist sechs Monate nach der Bundestagswahl politisch zumindest wieder voll funktionsfähig. Doch die vergangenen sechs Monate haben das Land verändert. Der Sieg der Unionsparteien fiel überraschend schwach aus und war in Tat und Wahrheit eine Niederlage. Die SPD ist auf ein Rekordtief gefallen und niemand weiss, ob sie sich davon erholen wird.
Ob Deutschland langfristig noch der Hort politischer Stabilität bleiben wird, wagt niemand zu prophezeien. Denn ob sich die Volksparteien behaupten können, ist nicht sicher. Schon jetzt sind sieben Parteien im Bundestag vertreten, was eine Regierungsbildung so schwierig machte, wie noch nie seit 1949.
Das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, eines Bündnisses von CDU/CSU, FDP und Grünen, sitzt dem politischen Deutschland noch in den Knochen. Und das Land ist sich bewusstgeworden, dass der Beginn dieser neuen Grossen Koalition auch der Anfang vom Ende der Ära Merkel ist. Ob sie noch vier Jahre dauert oder ob es in der laufenden Legislaturperiode schon zu einem Koalitionsbruch kommt, ist nicht sicher. Der frühere SPD-Innenminister Otto Schily oder der Co-Fraktionschef der Linken prognostizierten aber beim SRF, die Koalition werde vier Jahre halten.
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Bild 1 von 11. Alice Weidel bildet zusammen mit Alexander Gauland die Fraktionsspitze der AfD. 2013 ist sie der AfD beigetreten. Dort legt sie einen steilen Aufstieg hin: 2015 wird sie in den Bundesvorstand gewählt, 2017 führt sie die Partei als Spitzenkandidatin erstmals in den Bundestag. Spezialgebiet der 39-Jährigen ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 11. Alexander Gauland steht wie Weidel an der Fraktionspitze der AfD. Der 77-Jährige Jurist ist bereits seit den 1970er Jahren in der Politik tätig. Gauland bezeichnete die Flüchtlingskrise als «Geschenk für die Partei». Er gilt als einer der Wegbereiter des rechtskonservativen Kurses der AfD. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 11. Beatrix von Storch ist stellvertretende Fraktionschefin der AfD, Die 46-Jährige wird 2016 deutschlandweit bekannt, als sie mögliche Schusswaffeneinsätze gegen Flüchtlinge für gerechtfertigt hält. Von 2014 bis 2016 war sie Mitglied der rechtspopulistischen Fraktion im Europäischen Parlament. Seit November 2017 ist sie Abgeordnete des Bundestages. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 11. Jörg Meuthen ist einer der Sprecher der AfD und durch seine Medienpräsenz einer der bekanntesten Köpfe der Partei. Der Wirtschaftswissenschaftler ist Nachfolger von Beatrix von Storch im Europäischen Parlament und hat keinen Sitz im Bundestag. Der 56--Jährige ist bekannt als Kritiker der europäischen Währungsunion. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 11. Marc Jongen gilt als Phlosoph der AfD. Der gebürtige Südtiroler hat das «Manifest» der Partei verfasst. Der 49-Jährige ist kulturpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Auf seiner Webseite erklärt er dazu: «Es wird mir eine Ehre und Freude sein, dieses Amt auszuüben und die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen.». Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 11. Albrecht Glaser ist Mitbegründer der AfD. Seit 2015 sitzt er im Bundesvorstand der Partei. Landesweit bekannt wurde er 2017 durch seine erfolglose Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten und die gescheiterte Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 11. Björn Höcke ist einer der umstrittensten Figuren der AfD. Er ist Fraktionsvorsitzender im Landtag des Bundeslandes Thüringen und gilt als Rechtsaussen der Partei. Wiederholt fiel der 45-Jährige durch grenzwertige Aussagen auf, die ihm ein Parteiausschlussverfahren einbrachte, das noch hängig ist. Höcke ist nicht Bundestagsabgeordneter. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 11. Stephan Brandner wird dem Höcke-Lager und damit dem rechten Flügel der Partei zugeordnet. Ähnlich wie dieser setzt er auf verbale Provokation der politischen Gegner. Brandner ist seit Ende Januar 2018 Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Die Wahl war nötig, weil die normalerweise ausreichende Nomination nicht reichte. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 11. Zwei weitere Fachausschüsse des Deutschen Bundestages werden von AfD-Politikern geleitert. Der Ausschuss für Tourismus wird von Sebastian Münzenmaier geleitet – an der Spitze des Haushaltsausschusses steht Peter Boehringer (Bild). Er ist ein scharfer Kritiker der aktuellen Euro-Politik. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 11. Frauke Petry war das bekannteste Gesicht der AfD. Just nachdem sie 2017 durch den Sieg in ihrem Wahlkreis ein Bundestagsmandat gewonnen hatte, trat sie nach Streitigkeiten mit Weidel und Gauland aus der Partei aus. Im Bundestag sitzt sie nun als Fraktionslose. Inzwischen hat sie eigene Partei gegründet: die Blaue Partei. Bildquelle: Keystone.
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Bild 11 von 11. Und dann war ja da noch Bernd Lucke. Lucke war Mitbegründer der AfD, trat aber später aus der Partei aus. Lucke wurde praktisch «rechts überholt». Danach gründete er die Partei Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa), die sich in Liberal-Konservative Reformer (LKR) umbenannte. Dort sitzt er noch im Vorstand, ebenso im Europäischen Parlament. Bildquelle: Keystone.