Wenn man die jüngsten Nachrichten aus dem europäischen Wirtschaftraum betrachtet, bekommt man leicht den Eindruck: Die Finanzkrise ist überstanden. Verschiedene Konjunkturzahlen belegen, dass in den krisengebeutelten Ländern wie Spanien, Italien, Portugal oder Griechenland die Zeichen wieder auf Wachstum stehen.
«Südeuropa ist in einer Depression»
Die grossen Volkswirtschaften haben sich aufgerappelt und wachsen wieder, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, Unternehmen investieren und die Stimmung an den Börsen ist gut.
Doch Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann traut der Stimmung nicht: Er ist überzeugt, die positiven Konjunkturdaten seien trügerisch, die Finanzkrise alles andere als vorbei. Im Gegenteil: Sie werde Europa noch lange beschäftigen.
«Südeuropa ist meiner Meinung nach in einer Depression, zwar nicht in einer so grossen wie in den 30er-Jahren, aber aus meiner Sicht werden die Länder nicht mehr in absehbarer Zeit zu einem richtigen Wachstum zurückfinden», sagt Straumann.
Gegen den Strom
Mit dieser düsteren Meinung schwimmt der Zürcher Professor in seiner Berufsgilde gegen den Strom. Denn andere Experten betonen etwa, dass sich beispielsweise in Portugal der Tourismus erholt, oder dass in Spanien Privatkonsum und Exporte zulegen.
Wir haben eine ganz verheerende Dynamik, ein schwaches Bankensystem, hohe Staatsschulden und hohe Arbeitslosigkeit.
Doch Skeptiker Straumann listet gleich mehrere Argumente auf, um seine These zu stützen. «Wir haben eine ganz verheerende Dynamik, ein schwaches Bankensystem, hohe Staatsschulden und hohe Arbeitslosigkeit.» Zudem gebe es zurzeit keine einzige stabile Regierung in Südeuropa und das werde wohl auch in den nächsten fünf Jahren nicht mehr der Fall sein.
Alle traditionellen Parteien seien verschwunden in Europa: Das habe es seit 1945 nicht mehr gegeben, beobachtet der Historiker besorgt. «Die EU ist gelähmt und braucht dringend Reformen.»
Doch an eine grundlegende Erneuerung glaubt Straumann nicht mehr, obwohl der französische Präsident Emmanuel Macron jüngst eine solche Integrations-Offensive gestartet hat. «Seit dreissig Jahren höre ich immer, jetzt wird dann integriert, jetzt kommen dann die Vereinigten Staaten von Europa.» Der Diskurs habe nichts mit der Realität zu tun.
Zwei Auswege aus der Falle
Straumann verweist auf den Versuch, eine Bankenunion zu schaffen, mit einem EU-weiten Einlegerschutz, der gewaltig stockt. Südeuropa kann sich laut Straumann aber auch nicht selber aus dem Sumpf ziehen: Die Staatskassen sind leer, die Schuldenberge noch immer riesig, ein Schuldenerlass ist politisch kaum realistisch. Die Regierungen haben somit kaum Mittel für Krisenmassnahmen.
Aber auch die Geldpolitik hilft nicht weiter: Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland können wegen des Euros nicht einfach ihre eigene Währung abwerten, wie das andere Länder in vergleichbaren Krisen tun würden, um wieder auf die Beine zu kommen.
Straumann ortet nur zwei Auswege aus der Falle, in der Südeuropa gefangen ist. «Entweder macht man die Eurozone zu einer richtigen Währungsunion oder man löst sie wieder auf.» Das sei die einzige Lösung, beides sei aber unwahrscheinlich.
Deshalb geht Straumann pessimistisch davon aus, dass sich die EU mit ihren südeuropäischen Sorgenkindern weiterhin von einer Schulden-Frist zur nächsten hangeln wird. Seines Erachtens ist Südeuropa eine Art Zeitbombe, die die EU jahrzehntelang beschäftigen wird. Eine Zeitbombe, die jederzeit platzen kann.