Das Wichtigste in Kürze
- Die Präsidentschaftswahl ist gelaufen, Fragen bleiben: Wie verdaut der Front National die Wahlniederlage, wohin steuert er?
- Der Politologe Jean-Yves Camus ist einer der profiliertesten Kenner der rechtsextremen Partei.
- Camus prognostiziert, dass der FN weiter wachsen und neue Wählerschichten erreichen will. Richtungskämpfe seien jedoch vorprogrammiert.
34 Prozent der Stimmen in einer Präsidentschaftswahl: Ist das nun ein Erfolg oder eine Niederlage für die Rechtsextremen vom Front National? «Das ist wie die Frage nach dem halbvollen oder halbleeren Glas», sagt der französische Extremismus-Experte Jean-Yves Camus. 34 Prozent sei weniger als das, was man erwartet habe. Aber in absoluten Zahlen seien das zwischen zehn und elf Millionen Stimmen – eine beachtliche Zahl.
Zur Erinnerung: Jean-Marie Le Pen holte vor fünfzehn Jahren weniger als die Hälfte davon. Der Front National könne also sehr wohl zur wichtigsten Oppositionspartei gegen die Politik des neuen Präsidenten Macron werden, prognostiziert Camus. Aber das Ziel, ins Elysée einzuziehen, habe Marine Le Pen klar verfehlt.
Trotzdem sei ihre Stellung innerhalb der Partei auf kurze Sicht gut abgesichert, so der Politologe: «Im Front National funktioniert es nicht wie in den Mainstream-Parteien in vielen europäischen Ländern: Egal ob links oder rechts – in diesen Parteien geht der Parteichef nach einer Wahlniederlage ans Rednerpult, übernimmt die Verantwortung und tritt zurück.» Nicht so beim Front National. Bei ihm sei der Platz für freie Meinungsäusserung sehr klein.
Dabei gibt es sehr wohl unterschiedliche Strömungen innerhalb der Partei: die sozial orientierte, unter Marine Le Pen verstärkte Strömung, welche auf die Arbeiterklasse zielt – eher im Norden des Landes zuhause; und die traditionelle, ältere Strömung, welche den Kampf gegen die Immigration zu ihrem Hauptthema macht.
Der nächste innerfamiliäre Putsch?
Und diese Strömung hat einen Namen: «Wenn es eine Person innerhalb der Partei gibt, welche die Opposition gegen Marine Le Pen verkörpert, ist das Marion Maréchal-Le Pen, die Nichte von Marine und Enkelin des Parteigründers Jean-Marie Le Pen.»
Und wenn Marion die Dinge in der Partei wirklich ändern wolle, könnte sie das an einem Parteikongress in ein paar Monaten versuchen und den Platz ihrer Tante einnehmen. Aber, betont Camus, Marion müsste sich einen Putsch sehr gut überlegen, denn Marine Le Pen habe ihre Seilschaften gut platziert innerhalb der Partei.
Dem Front National könnten also innerparteiliche Turbulenzen bevorstehen. Wenn er sie gut meistert, stellt sich die Frage: Wo könnte er bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen weiter zulegen? In der Banlieue, in den Vororten der Grossstädte mit hoher Arbeitslosigkeit und bisher relativ wenigen Le-Pen-Wählern.
Es geht dem Front National um Revanche, um Vergeltung für die Marginalisierung der extremen Rechten seit dem Zweiten Weltkrieg.
«Diese Gebiete sind in doppelter Hinsicht vernachlässigt», sagt Camus. Erstens wirtschaftlich mit einer hohen Arbeitslosigkeit und zweitens, weil dort der Service Public schlecht sei, der öffentliche Verkehr mangelhaft und so weiter. «Aber in diesen Vororten leben auch viele Immigranten», sagt der Extremismus-Experte.
Und ob sie bereit seien, sich in die Arme einer Partei zu werfen, welche trotz allfälligem sozialem Engagement immer noch gegen Multikulturalität eingestellt sei, stellt Camus in Frage: «Dieser Spagat ist für den Front National eine fast unmögliche Übung.»
Offene Rechnungen
Will denn Marine Le Pen tatsächlich an die Macht, ins Elysée? Camus glaubt nicht an die These einiger seiner Berufskollegen, welche sagen, der Front National wolle nur eine Lobby-Partei sein für rechtsradikales Gedankengut.
Ihm gehe es um mehr: «Es geht um Revanche, um Vergeltung für die Marginalisierung der extremen Rechten seit dem Zweiten Weltkrieg und vor allem auch seit der Niederlage im Algerienkrieg Anfang der 1960er-Jahre.»
Und deshalb glaubt Jean-Yves Camus, dass der Front National versuchen werde, noch stärker zu werden.