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Dokumente zu Kennedy-Attentat «Ich bin überzeugt, dass wir nie die ganze Wahrheit wissen»

Zum Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy könnten neu veröffentlichte Geheimdokumente Hinweise zur Täterschaft liefern. Historiker Andreas Etges ordnet ein, was von den Dokumenten zu erwarten ist.

Andreas Etges

Historiker

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Andreas Etges ist Historiker am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Aufgabengebiet umfasst unter anderem politische und diplomatische Geschichte sowie transatlantische Beziehungen.

SRF News: Noch immer steht die Frage im Raum, ob Lee Harvey Oswald, Attentäter von John F. Kennedy, alleine gehandelt hat. Können die neu veröffentlichten Dokumente diese Frage beantworten?

Andreas Etges: Es handelt sich ungefähr um drei Prozent von mehreren 100'000 Dokumenten, die noch nicht freigegeben sind. Wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren immer wieder freigegeben wurde, dann sind es Dinge, die zeigen, dass die amerikanischen Behörden Lee Harvey Oswald im Vorfeld der Ermordung viel genauer beobachtet hatten.

Was man versteckt, sind zum Teil Hinweise auf operative Aktionen, Hinweise auf Namen und Dinge, die möglicherweise der CIA, dem FBI oder anderen peinlich sind.

Es gibt Dinge, die mit Anschlägen auf Kuba, grossen Sabotageaktionen oder Mordanschlägen auf Fidel Castro zu tun haben. Also noch weitere Details über das hinaus, was man schon wusste. Was versteckt wird, sind zum Teil Hinweise auf operative Aktionen, Hinweise auf Namen und Dinge, die möglicherweise der CIA, dem FBI oder anderen peinlich sind, die danebengegangen sind, wo sie versagt haben im Vorfeld – oder wo sie immer noch schmutzige Dinge verstecken wollen.

Heisst das, dass Lee Harvey Oswald schon lange unter Beobachtung der CIA war?

Lee Harvey Oswald war von der US-Armee ausgebildet worden und war freiwillig in die Sowjetunion gegangen. Dort hatte er eine Frau geheiratet und durfte wieder – was auch schon aussergewöhnlich war – in die USA zurück. Danach bemühte er sich aber, wieder zurück in die Sowjetunion zu kommen. Weil diese Person obskur war und man genau schauen musste, ob er als Doppelagent oder als Agent zurückgeschickt wird, kam er auf die Liste der CIA sowie des FBI und wurde überwacht.

Es spricht sehr viel dafür, dass Lee Harvey Oswald der Haupttäter, vielleicht sogar der Alleintäter war.

Das heisst alles nicht, dass die CIA oder FBI Ahnung hatten, dass diese Person einen Mordanschlag auf John F. Kennedy plante oder daran beteiligt war. Die Dokumente der letzten fünf bis zehn Jahre zeigen aber, dass man viel näher an ihm dran war, als damals zugegeben wurde.

Sie erwarten nicht, dass man mit diesen neuen Dokumenten mehr erfahren wird. Heisst das, wir werden nie erfahren, was damals wirklich passiert ist?

Ich bin überzeugt davon, dass wir nie die ganze Wahrheit wissen. Das hängt auch damit zusammen, dass 1963 und 1964, als die grossen Ermittlungen geschehen sind, enorm viele Fehler gemacht wurden. Die Untersuchungskommission hatte nicht den Auftrag, tatsächlich herauszufinden, was genau geschehen war. Zudem haben FBI und CIA nicht komplett mitgearbeitet – sie haben zum Teil Akten zurückgehalten, über Dinge gelogen und so auch die Ermittlungen behindert.

US-Präsident John F. Kennedy und First Lady Jacqueline Kennedy im Wagen am Attentat
Legende: 22. November 1963 in Dallas: US-Präsident John F. Kennedy (links) und First Lady Jacqueline Kennedy (rechts in rosa) sitzen in einem offenen Wagen, kurz bevor John F. Kennedy erschossen wurde. Getty Images/Bettmann

Nicht um ihre Beteiligung an einer Verschwörung zu kaschieren, sondern weil viele illegale Aktivitäten, über die wir heute wissen, erst später unter anderem nach Richard Nixon und der Watergate-Affäre bekannt geworden sind. Sie haben sich selber geschützt und haben damit Ermittlungen behindert. Deshalb wird man das nie mehr wettmachen können in der Aufklärung.

Was ist Ihre Theorie, was damals passiert ist?

Es spricht sehr viel dafür, dass Lee Harvey Oswald der Haupttäter, vielleicht sogar der Alleintäter war. Und ich bin überzeugt davon, dass keine der grossen Verschwörungstheorien auf Wahrheiten oder Fakten beruhen – dass die CIA, die Mafia, die Kubaner oder vielleicht sogar die Sowjetunion oder auch Lyndon B. Johnson, der Nachfolger von Präsident Kennedy, an der Ermordung beteiligt waren. Über alles andere kann man letztlich nur spekulieren.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 17.12.2022, 18:00 Uhr ; 

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