Heute vor einem Jahr ist Emmanuel Macron als Präsident Frankreichs gewählt worden. Macron und seine neue Partei «La République en Marche» traten an, um das Land zu reformieren.
Das Wahlvolk stattete ihn und seine Partei mit einer satten Mehrheit im Parlament aus. Grosse Verlierer waren die etablierten Parteien. Die Parteienlandschaft hat sich seither so stark verändert, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte. Welche Rolle Macron dabei spielt, weiss Gilbert Casasus.
SRF News: Hatte Macron wirklich so viel Einfluss auf diese Veränderung, oder hat er einfach von der Schwäche der anderen Parteien profitiert?
Gilbert Casasus: Macron hat verstanden, dass sich in Frankreich auf der Ebene der Parteipolitik viel verändert. Seit 1958 – seit der Gründung der Fünften Republik – herrschte ein Block-gegen-Block-Denken, das heisst, der linke Block gegen den rechten Block. Es gab dreimal ein Szenario, bei dem der Präsident links oder rechts war, und die Mehrheit im gegenteiligen Lager. Aber es gibt im Gegensatz zu anderen Ländern keine Koalitionen.
Macron hat es verstanden, dass man nicht mehr nur links oder rechts regieren kann.
Es gibt nicht wie in der Schweiz mehrere Regierungsparteien. Selbst in Deutschland gibt es eine Koalition. Aber dieser Koalitionsgedanke herrschte in Frankreich eben nicht. Macron hat es verstanden, dass man nicht mehr nur links oder rechts regieren kann, sondern dass irgendeine Mischform entstehen sollte. Das war sein grosses Verdienst.
Er lancierte die Plattform «La République en Marche» mit vielen unbekannten Gesichtern. Wie sieht das Profil der Partei heute aus?
Das Profil ist eher Mitte-links. Wobei die Politik eher Mitte-rechts ist. Das ist ein Widerspruch. Es sind auch eher junge Leute dabei, die sich mit dem Parteiensystem der Fünften Republik überhaupt nicht mehr identifizieren. Und auch interessant ist: «En Marche» heisst «Laufen». Es ist also eine Art stille Revolution mit den Füssen gewesen. Das heisst, es geht auch um neue Prozedere, wie man Politik macht.
Die ersten «Läufer» sind zu den Leuten gegangen und haben mit ihnen geredet. Dieses System scheint sich als nachhaltig zu erweisen. Das ist nämlich dieselbe Strategie, die Macron für die Europawahl vorsieht – mit den Bürgern reden. Alles ist ein bisschen demokratischer geworden. Man hat bei der «République en Marche» verstanden, dass sich Mandatsträger volksnäher geben müssen.
Der Herr der grossen Gesten
Das hat bei den Wahlen in die Nationalversammlung in Paris funktioniert. Aber wie sieht es auf der kommunalen Ebene aus?
Das ist die Hauptgefahr für Macron. Die nächsten Wahlen sind die Europawahlen. Aufgrund der guten Europapolitik, die Macron macht, wird er kein zu schlechtes Ergebnis haben. Aber im Jahr 2020 finden die Kommunalwahlen statt. Dabei haben die amtierenden Bürgermeister den sogenannten Amtsbonus. Und auf kommunaler Ebene ist die «République en Marche» sehr schlecht vertreten. Also werden die etablierten Parteien versuchen, irgendwie ihre Revanche zu erzielen.
Blicken wir auf die anderen Parteien. Die Sozialisten sind ja regelrecht eingebrochen vor einem Jahr. Hat sich die Partei seither erholt?
Erholt hat sie sich nicht. Sie hat einen neuen Vorsitzenden, Olivier Faure, ein guter Mann, aber nicht unbedingt bekannt. Die Sozialisten haben ein wunderschönes Gebäude in Paris, in der Nähe des Musée d'Orsay. Das müssen sie verkaufen. Ich glaube, das sagt alles. Die Sozialisten sind eine Partei, die dank François Mitterand 1971 entstanden ist. Und diese Partei in dieser Form ist im letzten Jahr gestorben. Es gibt nach wie vor ein grosses Wählerpotenzial bei den Sozialisten, die zum Grossteil zu Macron übergegangen sind.
Die sozialistische Partei in dieser Form ist im letzten Jahr gestorben.
Sollte Macron eine zu konservative Politik führen, gerade im Fiskalbereich, könnten sich die Sozialisten erholen. Aber die Sozialisten müssen zuerst überlegen, was heute Sozialdemokratie in Frankreich bedeutet.
François Fillon machte keine gute Figur bei den Präsidentschaftswahlen. Wie sieht es auf der konservativen Seite aus, bei den Republikanern?
Bei den Konservativen sieht es kaum besser aus als bei den Sozialisten. Sie haben auch einen neuen Vorsitzenden, Laurent Wauquiez. Ein junger Mann, sehr konservativ. Und er liebäugelt ein bisschen mit dem Front National. Er versucht, am rechten Rand zu punkten. Einige sind der Auffassung, dass die Zukunft der Konservativen wie ein Sammelsurium von gemässigtem Front National und konservativen Republikanern aussehen soll. Dann würde bei den gemässigten Konservativen allerdings ein Vakuum entstehen.
Um die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen ist es ziemlich still geworden...
Still würde ich nichts sagen. Das schlechte Wahlergebnis von Marine Le Pen spielt eine Rolle – vor allem die Figur, die sie dabei abgegeben hat. Ihre Partei versucht jetzt, die Themen zu besetzen, bei denen sie stark ist – Immigration und Migrantionspolitik. Sie verlässt die Themen Euro und Europa, bei denen der Front National im letzten Jahr als unglaubwürdig erschien.
Die Grünen haben in Frankreich keine grosse Bedeutung. Aber jetzt sitzt ein Grüner als Aushängeschild in der Regierung: Nicolas Hulot.
Nicolas Hulot ist sicherlich das Vorzeigemodell für Ökologie. Er hat es aber schwer. Einerseits muss er hie und da in den sauren Apfel beissen, weil einige Massnahmen überhaupt nicht ökologisch sind. Gerade in der Atompolitik hat man den Eindruck, dass man in Paris eine gewisse Tradition fortsetzt.
Frankreich ist ein Beispiel für die Krise der etablierten Parteien.
Andererseits hat er in manchen Bereichen schon einiges erreicht. Ich denke zum Beispiel an den Stopp des Flughafenbaus in Nantes. Man sieht, dass Hulot kämpfen muss, auch innerhalb der Regierung. Aber sollte er erfolgreich sein, könnte das ökologische Bewusstsein in Frankreich ein bisschen besser aussehen, als es bisher traditionell der Fall gewesen ist.
Handelt es sich um eine bleibende Umgestaltung der Parteienlandschaft?
Wir sehen in ganz Europa Krisen der etablierten Parteien. Vielleicht mehr bei den Linken als bei den Konservativen. Und Frankreich ist ein Beispiel für diese Krise. Die etablierten Parteien sind irgendwie im 20. Jahrhundert stehengeblieben. Macron ist ein Mann des 21. Jahrhunderts, und er hat gesehen, dass gewisse Themen parteienübergreifend sind.
Das heisst nicht, dass das Links-rechts-Spektrum nicht mehr existiert. Es ist wichtig für die Demokratie. Aber gerade bei linken Kräften stellt sich die Frage: Was ist heute links? Geht es darum, den Arbeiter zu verteidigen, der als Hauptfeind einen Migranten sieht? Das glaube ich nicht. In Frankreich, aber auch überall in Europa, sind derzeit gesellschaftliche Entwicklungen im Gang, die nachhaltig sind. Macrons Verdienst ist es vielleicht gewesen, das erkannt zu haben.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.