Dort, wo im Südosten der Türkei vor knapp einem Jahr bei einem schweren Erdbeben Tausende Menschen getötet worden sind, hausen die Hunderttausenden Überlebenden bis heute in Containern. Dabei hatte die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan einen raschen Wiederaufbau versprochen. Der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert hat das Erdbebengebiet besucht.
SRF News: Wie ist die Situation im Erdbebengebiet?
Thomas Seibert: Die Stadt Adiyaman hat sich noch nicht von der Katastrophe erholt. Immer noch sind viele Strassen durch eingestürzte Gebäude blockiert, bei anderen Häusern ist der Abbruch im Gange. Insgesamt sind in Adiyaman rund 5000 Gebäude entweder eingestürzt oder sie müssen abgerissen werden. Die betroffenen Menschen leben in rund einem Dutzend Containerlagern rund um die Stadt, meist ohne Job und ohne Perspektive.
Was bedeutet das für die betroffenen Menschen?
Viele sind richtiggehend verzweifelt. Bis zu fünf und mehr Personen müssen in den Lagern in einem Container mit einer Fläche von 21 Quadratmetern zusammenleben. Es gibt Schäden an den Containerdächern, manche sind undicht.
Es ist ein Leben von der Hand in den Mund.
Zwar gibt es Einkaufsläden bei den Lagern, doch die Preise dort sind oft viel höher als in den Supermärkten in der Stadt. Viele Menschen fahren also fast täglich in völlig überfüllten Minibussen ins Zentrum, um sich dort zu versorgen. Kurz: Es ist ein Leben von der Hand in den Mund.
Wie kommt der von der Regierung versprochene Wiederaufbau voran?
Wenn man der Regierung und ihr nahestehenden Medien glauben kann, geht es tatsächlich voran. Dabei werden den Menschen erdbebensichere Häuser versprochen. Allerdings: Insgesamt haben Hunderttausende Menschen bei den Erdbeben ihre Häuser oder Wohnungen verloren, entsprechend lange wird es dauern, bis für sie Neubauten erstellt sind. Zudem konzentrieren sich die Behörden sehr stark auf diesen Wiederaufbau, dabei bleiben akute Probleme wie fehlende Wasser- oder Abwasserleitungen liegen.
Wie reagieren die Menschen auf diese Situation?
Überall in Adiyaman sind bei den betroffenen Menschen Wut und Verzweiflung ob der schwierigen Situation zu spüren.
Diese Woche hat die juristische Aufarbeitung der Erdbebenkatastrophe begonnen. Vor Gericht müssen sich Angeklagte im Zusammenhang mit einem eingestürzten Hotel verantworten. Worum geht es da?
Angeklagt sind elf Bauunternehmer und Manager des Hotels, in dem 72 Menschen umgekommen sind. Gutachten sollen laut der Staatsanwaltschaft belegen, dass gegen zahlreiche Bauvorschriften verstossen worden sei – etwa, was die Zusammensetzung des Betons angeht.
Der Druck für eine ordentliche juristische Aufarbeitung des Falles ist gross.
Auch soll das Hotel über ein Geschoss mehr verfügt haben, als die Baubewilligung vorsah. Beim Einsturz des Hotels starben unter anderem 40 junge Menschen aus dem türkischen Teil von Zypern – sie waren für ein Volleyball-Turnier angereist. Der Druck für eine ordentliche juristische Aufarbeitung des Falles ist entsprechend gross.
Wie wichtig ist es für die Opfer des Erdbebens und deren Angehörigen, dass Schuldige für die Katastrophe benannt werden?
Für viele Menschen, die bei dem Erdbeben Verwandte oder Freunde verloren haben, ist dies sehr entscheidend. Für alle aber ist noch wichtiger, dass sich der Staat besser um sie kümmert. Denn ein Jahr nach der Katastrophe ist diese praktisch aus dem Alltag in der Türkei verschwunden. Nur vereinzelt wird noch medial aus dem Erdbebengebiet berichtet. Die betroffenen Menschen fühlen sich vergessen und im Stich gelassen.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.