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Ein Jahr nach Labours Wahlsieg Grossbritannien wartet auf den grossen Neustart

Einen grossen Wahlsieg hat die britische Labour-Partei vor einem Jahr errungen. Doch die Reformen tragen keine schnellen Früchte. Und die Baustellen sind riesig – in Gesundheit, Bildung, Infrastruktur oder Verteidigung. Katerstimmung macht sich breit.

«We will fix it!» hat Labour-Parteichef Keir Starmer vor einem Jahr vor dem grossen Wahlsieg seiner Partei versprochen. Starmer versprach, «broken Britain» zu flicken – allem voran das zusammenbrechende staatliche Gesundheitssystem (NHS). Das allein ist eine Herkulesaufgabe.

Starmer läuft aus Baker Street 10
Legende: Für Starmers Labour-Partei gibt es noch viel zu tun. Keystone/LUCY NORTH

Über sechs Millionen Menschen warten zurzeit seit Wochen auf einen Termin für eine Untersuchung oder einen geplanten Eingriff. Fast 200'000 Personen warten seit über einem Jahr darauf. Diese Wartezeiten werde man sofort verkürzen – mit Hunderttausenden von zusätzlichen Behandlungsterminen an den Abenden und an den Wochenenden. Labour hat Wort gehalten.

Doch die Wartelisten sind nur unmerklich kürzer geworden, weil auch die Nachfrage gewachsen ist: Die britische Gesellschaft altert, die gesundheitlichen Probleme nehmen zu – insbesondere psychische Krankheiten bei jüngeren Menschen, die mit der angespannten Weltlage oder mit ihrem persönlichen Leben nicht mehr klarkommen.

Wenn das Gesundheitswesen krank macht

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Krebspatient Nathaniel Dye ist ein Beispiel dafür, wie marode das britische Gesundheitswesen ist. Er leidet an Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Vom ersten Verdacht auf Darmkrebs bis zum Beginn seiner Behandlung vergingen neun Monate – mehr als vier Mal so lange, wie sonst üblich. Weil Untersuchungstermine mehrmals verschoben wurden. Oder weil Scanner nicht verfügbar waren. All das hat seine Überlebenschancen drastisch verringert.

«Ich habe rund 50 Tumore in meiner Lunge; zwei grosse Tumore auf meiner Leber; einen Tumor im Hirn. Man hätte den Krebs noch in den Griff bekommen können, als ich Probleme im Darm feststellte. Doch jetzt ist es zu spät», sagt der knapp 40-jährige Musiklehrer niedergeschlagen. Besonders schlimm sei, dass es Tausenden Menschen gleich ergehe.

Das staatliche Gesundheitssystem Grossbritanniens ist seit Jahren am Anschlag – lange Wartezeiten sind die Regel, insbesondere auf Notfallstationen. Notfallteams können Neuankommende erst nach Stunden untersuchen. Untersuchungen und Pflege wiederum finden immer öfter auf den Gängen statt, weil Betten auf den Stationen fehlen. Ein Skandal, findet die Notfall-Ärzteschaft.

«Hunderte Menschen sterben jede Woche beim Warten auf den Korridoren», sagt Ian Higginson, Präsident der Vereinigung für Notfallmedizin. «Die Pflege auf den Korridoren ist ein Zeichen dafür, dass das Gesundheitssystem versagt – abseits der Notfallabteilungen wohl noch stärker als hier.»

Grosser Sieg, schwindendes Vertrauen

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Labours Wahlsieg am 4. Juli 2024 war spektakulär: Mit dem Gewinn von 412 von insgesamt 650 Sitzen im britischen Unterhaus erzielte die sozialdemokratische Partei Grossbritanniens das zweitbeste Resultat ihrer Geschichte und verdrängte die skandalgeschüttelte konservative Regierung von der Macht.

Die Konservativen verloren 250 Sitze und kamen gerade noch auf 121 von 650 Sitzen. Nach 13 Jahren wieder in der Opposition, sind die «Tories» nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie sind intern zerstritten und suchen verzweifelt nach neuen Themen. Die rechts-nationale Kleinpartei Reform UK von Nigel Farage stiehlt den Konservativen oft die Show und inszeniert sich selbstbewusst als «die wahre Oppositionspartei».

Labour gewann die Neuwahlen im Juli 2024 mit wenig Rückhalt: Nur gerade 33.7 Prozent der Wählerschaft stimmte für Labour – und trotzdem reichte dies dank des britischen Majorz-Wahlrechts für eine komfortable Mehrheit im Unterhaus. Grund: Das Mitte-Rechts-Lager ist zersplittert auf vier Parteien – die Konservativen (mit 23.7 % Wähleranteil), Reform UK (14.3 %), die Liberal-Demokraten (12.2%). Damit konnte Labour die Siegesprämie mit geringen 10 Prozent Vorsprung auf die Konservativen einstreichen.

Doch der geringe Rückhalt in der Wählerschaft wird für Labour zur Hypothek: Welche Reformen die Labour-Regierung auch anpackt, es hagelt Kritik. Eine YouGov-Umfrage von Ende Juni 2025 zeigt: Würde am kommenden Sonntag gewählt, würden noch 24 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Labour einlegen. Labour würde die Wahl verlieren. Neu stärkste Partei würde mit 26 Prozent die Rechtsaussen-Partei Reform UK. Und die Konservativen kämen noch auf 17 Prozent Wähleranteil.

Tatsächlich. Notfälle können nicht den Stationen zugewiesen werden, weil die Abteilungen mit Langzeitpatienten oder chronisch Kranken überlastet sind. Diese können nicht entlastet werden, weil spitalexterne Krankenpflegedienste oder Pflegeheime nicht genügend Kapazitäten haben.

Milliardeninvestitionen in neue Apparate und in Gruppenpraxen

Labour-Premierminister Keir Starmer kennt die vielen Probleme. Und er will sie anpacken – mit Milliardeninvestitionen in neue Geräte, um Untersuchungen und Behandlungen zu beschleunigen. Und er will die Spitäler zusätzlich entlasten – mit mehr Geld für Hausarzt-Netzwerke.

Notfallarzt Ian Higginson zweifelt an den schönen Worten und vermisst die Taten: «In der Notfallversorgung hat Labour bisher wenig unternommen. Das scheint keine Priorität zu sein – was enttäuschend ist.» Auch das Problem mit der spitalexternen Pflege werde auf die lange Bank geschoben. Schnelle Besserung ist nicht in Sicht.

Kleines Wirtschaftswachstum, grosse Finanzprobleme

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Eine bessere Zukunft für die arbeitende Bevölkerung, lautet das gern und häufig wiederholte Mantra der Labour-Regierung seit ihrem Wahlsieg. Die Wirtschaft auf Touren zu bringen geniesst dabei die höchste Priorität. Der Gedanke dahinter: Wenn die Wirtschaft stärker wächst, wachsen auch die Steuereinnahmen – und bringen den nötigen finanziellen Spielraum, um die versprochenen Investitionen tätigen zu können in Gesundheit, Bildung, Energiewende, Infrastruktur und Verteidigung.

Doch es kommt nicht wie erhofft. Die Wirtschaft kommt nicht auf Touren, weil der Aussenhandel stagniert. Der 2020 erfolgte Austritt aus der Europäischen Union bremst die Exportwirtschaft und verteuert die Importe. Beides bremst Investitionen und schmälert die Innovationskraft der britischen Wirtschaft. Keir Starmer geht zwar aktiv auf die EU zu und leitet einen Reset der Beziehungen ein, in der Hoffnung, die Handelsschranken baldmöglichst wieder abbauen zu können. Doch die EU lässt sich Zeit und will Zugeständnisse bei der Fischerei und fordert Visa-Erleichterungen für unter 30-Jährige, was in der Labour-Regierung zu Spannungen führt.

Finanzpolitisch versucht die erste Finanzministerin Grossbritanniens, Rachel Reeves, die Quadratur des Zirkels: Sie erhöht in ihrem ersten Budget vom Herbst 2024 die Abgaben auf den Löhnen, um Geld freizuspielen fürs Gesundheitswesen. Was sich buchhalterisch zwar rechtfertigen lässt, stösst Unternehmen vor den Kopf, die sich eine wirtschafts- und wachstumsfreundliche Politik erhofft hatten.

Doch Reeves muss irgendwo neues Geld hereinholen, da sie kaum neue Schulden machen kann, ohne die Finanzmärkte gegen sich aufzubringen und höhere Schuldzinsen bezahlen zu müssen. Grossbritanniens Schuldenlast hat die Schallmauer von 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung erreicht.

Um die Finanzmärkte zu besänftigen, ergreift Reeves unpopuläre Sparmassnahmen: Kaum im Amt beschränkt sie die Heizzuschüsse für Rentnerinnen und Rentner auf die Bedürftigsten. Das macht finanzpolitisch sehr wohl Sinn, bringt Labour aber grosse Kritik vom linken Flügel ein und führt zu monatelangen, parteiinternen Spannungen.

Reeves versucht im Frühjahr 2025 auch die Sozialhilfe für beeinträchtigte Personen zu kürzen, um rund 5 Milliarden Pfund zu sparen. Diese Massnahme muss sie Ende Juni praktisch vollständig zurücknehmen. Der Druck von der Parteibasis ist zu gross geworden.

Kurz: Kaum ein Jahr im Amt, ist Labours Reformfähigkeit bereit arg angeschlagen.

10vor10, 3.7.2025; 21:50 Uhr;liea

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