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Thorbjörn Jagland, der Optimist
Aus Echo der Zeit vom 03.09.2019. Bild: Imago
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Einfluss des Europarates «Ein Rauswurf Russlands hätte verheerende Konsequenzen»

Seit 2009 ist der frühere norwegische Ministerpräsident Thorbjörn Jagland Generalsekretär des Europarates in Strassburg. In der Zwischenzeit ging es in manchen der 47 Mitgliedsländer punkto Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte abwärts – also genau in jenen Bereichen, für die der Europarat zuständig ist.

Dazu kam ein bitterer Konflikt mit Russland. Thorbjörn Jagland, der sein Amt Mitte Monat nach zehn Jahren abgibt, hätte also reichlich Anlass für Pessimismus. Doch er sieht die Dinge weitaus positiver.

Thorbjörn Jagland

Thorbjörn Jagland

Generalsekretär des Europarates

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Thorbjörn Jagland ist ein norwegischer sozialdemokratischer Politiker. Seit 2009 ist er Generalsekretär des Europarates.

SRF News: Russland wurde nach der Annexion der Krim als Strafe das Stimmrecht im Parlament des Europarates entzogen. Worauf seine Abgeordneten den Rat ganz boykottierten und Moskau die Beitragszahlungen von gesamthaft gegen neunzig Millionen Franken einstellte. Seit Frühsommer ist es nun wieder Mitglied mit allen Rechten und Pflichten. Wie sieht es mit den Beitragszahlungen aus?

Thorbjörn Jagland: Russland hat soeben seine ausstehenden Beiträge wieder vollumfänglich bezahlt. Das ist erfreulich. Allerdings waren nicht diese Zahlungen der Grund, weshalb wir Russland wieder als Vollmitglied im Europarat haben wollen. Es ging uns darum, dass wir in Russland wieder für die Interessen der russischen Bürger eintreten können.

Warum haben Sie sich selber dafür eingesetzt, dass Russland wieder voll mitmachen kann?

Am Ende sahen die meisten ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Russland halb drin und halb draussen, das ist ein Unding. Es sollte einerseits die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte befolgen, war aber nicht stimmberechtigt, wenn die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Richter wählte. Das geht nicht. Wir sind keine UNO-Organisation, wo man à discrétion mitarbeiten kann.

Der Europarat

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Der Europarat ist eine europäische internationale Organisation. Ihm gehören 47 Staaten mit insgesamt 820 Millionen Bürgern an. Der Rat ist institutionell nicht mit der Europäischen Union verbunden. Sein Sitz ist der Europapalast im französischen Strassburg.

Der Rat setzt sich für die Freiheit der Meinungsäusserung und der Medien ein, sowie für die Versammlungsfreiheit, für Gleichstellung und den Schutz von Minderheiten.

Er hilft Mitgliedsstaaten bei der Bekämpfung von Korruption und Terrorismus, sowie bei der Durchführung notwendiger Justizreformen. Weiterhin berät er Staaten weltweit in Verfassungsfragen.

Menschenrechte fördert er mithilfe internationaler Konventionen. Er überwacht die Fortschritte aller Mitgliedsstaaten in allen Bereichen.

Dem Europarat gegenüber sind die Mitgliedsländer auch juristisch verpflichtet, also muss ein Land voll mitmachen. Oder man schliesst es ganz aus, falls es grundsätzlich nicht kooperiert.

Heisst das, dass Russland in Ihren Augen grundsätzlich kooperiert?

Die russische Führung realisiert, dass es besser ist, wenn sie im Europarat mitmacht. Und wir realisieren umgekehrt, dass es besser ist, Russland dabei zu haben. Es ist das mächtigste Land Europas und eine globale Macht. Zugegeben, es ist ein Land mit grossen Problemen, doch für Europa hätte es verheerende Konsequenzen, wenn man Russland ganz hinauswerfen würde. Ohne rechtliche Bande zu Russland, würde es noch weitaus schwieriger, Lösungen für die zahlreichen Konflikte zu finden – in der Ukraine, in Georgien, in Moldawien.

Russischer Präsident Vladimir Putin am Rednerpult.
Legende: Russland ist wieder Vollmitglied im Europarat. «Das ist erfreulich», sagt Thorbjörn Jagland. Reuters

Kann der Europarat mit seinem Gerichtshof tatsächlich etwas bewirken?

Natürlich ist der Einfluss des Europarates in Russland begrenzt. Doch solange man in einem Mitgliedsland positiv Einfluss nehmen kann – sei dieser auch noch so klein – ist es besser, das Land bleibt Mitglied. Erst wenn sich ein Staat total renitent gebärdet, wird der Ausschluss unvermeidlich.

Wo zeigt sich denn der Einfluss Ihrer Organisation in Russland konkret?

Es gibt viele Beispiele. So wurden zahlreiche russische Gesetze aufgrund von Urteilen des Gerichtshofs für Menschenrechte geändert.

Als Russland dem Europarat beitrat, gab es dort eine Million Eingekerkerte in Gefängnissen im Stalin-Stil. Jetzt sind es noch 600'000, und das unter menschlicheren Haftbedingungen.

Unzählige Menschen wurden aus der Haft entlassen. Als Russland dem Europarat beitrat, gab es dort eine Million Eingekerkerte in Gefängnissen im Stalin-Stil. Jetzt sind es noch 600'000 – unter menschlicheren Haftbedingungen. Der Grund dafür: russische Bürger können an den EGMR appellieren. Schon das ist für mich Grund genug dafür, dass Russland dabei sein soll.

Auf massive Kritik stiess jedoch, dass Moskaus volle Rückkehr in den Europarat an keinerlei Bedingungen geknüpft wurde, weder in Sachen Krim-Annexion, noch in der Ostukraine. Weshalb dem Europarat vorgeworfen wird, er habe seine Prinzipien verraten, ja seine Seele verkauft.

Für Konflikte wie jenen um die Krim oder in der Ostukraine sind wir gar nicht zuständig. Darum müssen sich die OSZE oder der UNO-Sicherheitsrat kümmern. Natürlich haben wir die Annexion der Krim und die russische Einmischung in der Ostukraine verurteilt. Doch unsere spezifische Aufgabe ist es, die Menschenrechte von Einzelpersonen in allen 47 Mitgliedsländern zu schützen. Diese Aufgabe ist einzigartig. Nähmen wir uns zusätzlich geopolitischen Fragen an, würden wir zu einer Organisation unter vielen. Das wollen viele nicht verstehen.

Als Sie vor zehn Jahren zum Generalsekretär des Europarates gewählt wurden, machten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte fast europaweit Fortschritte. Doch seither kippte die Lage in vielen Ländern, von Russland bis zur Türkei, von Ungarn bis Polen und gar Italien. Hat der Europarat versagt?

Es gab Rückschläge, auch in Mitgliedsländern. Doch es gab und gibt auch Fortschritte, was weniger beachtet wird. In Russland oder in Aserbaidschan etwa wurden politische Gefangene freigelassen. In der Türkei verhindert die Zugehörigkeit zum Europarat und damit zur Europäischen Menschenrechtskonvention Schlimmeres. Mein erstes Ziel als Generalsekretär bestand darin, den Gerichtshof für Menschenrechte zu reformieren, ihn effizienter, schlagkräftiger zu machen. Das gelang uns, dank des Schweizer Engagements, auf einer grossen Konferenz in Interlaken. Seither ist der EGMR deutlich gestärkt.

Bild des Europäischen Gerichtshofes in Strasbourg.
Legende: Thorbjörn Jaglands erstes Ziel als Generalsekretär des Europarates: Den Gerichtshof für Menschenrechte reformieren, ihn effizienter und schlagkräftiger machen Reuters

Ihre Bilanz ist also insgesamt eine Erfreuliche?

Ich gehöre nicht zu jenen, die glauben, dass sich überall in der Welt autoritäre Regime durchsetzen. Es gibt beunruhigende Entwicklungen, gewiss. Wählen wir jedoch eine längerfristige Perspektive, erkennen wir, dass die meisten Gesellschaften in Europa stabil sind. Die Zivilgesellschaft ist stark. Die Medien lassen sich nicht ganz zum Verstummen bringen. Es gibt zwar Polizeiübergriffe, aber kein Staat kann mehr Panzer gegen Bürger auffahren. Diese Zeiten sind vorbei.

Wie schätzen Sie die Lage in der Schweiz ein? Auch hier stossen immer mehr Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte – vor allem im rechten Lager – auf heftige Kritik. Bemängelt wird auch, der Gerichtshof mische sich in innere Angelegenheiten ein. Die Volksinitiative «Landesrecht vor Völkerrecht» richtete sich nicht zuletzt gegen den Strassburger Gerichtshof.

Die Schweiz unterstützt internationale Abkommen, sie ist in vieler Hinsicht ein vorbildliches Land. Sicher, es gibt auch hier Widerstände. Aber vergessen wir nicht, die Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» wurde deutlich abgelehnt. Ich sehe in der Schweiz einen starken Partner.

Und das geltende Minarettverbot oder das mögliche Burkaverbot: Wie sehen Sie solche Entwicklungen?

Ja, es gibt diese und andere irritierende Signale. Etwa fremdenfeindliche Hetze. Die gibt es überall.

Denn soziale Angst vergiftet das politische Klima. Verbunden mit der starken Zuwanderung ergibt das einen gefährlichen Cocktail.

Aber die Tatsache, dass Millionen von Menschen aus anderen Kontinenten gerne nach Europa zögen, zeigt auch, dass es nicht ganz so schlimm sein kann. Was mich besorgt, ist vielerorts der Niedergang der sozialen Sicherheit. Ungesicherte Renten, Jugendarbeitslosigkeit, Armut. Da sind wir mit unserer Sozialcharta gefordert, aber auch die EU muss mehr darauf achten. Denn soziale Angst vergiftet das politische Klima. Verbunden mit der starken Zuwanderung ergibt das einen gefährlichen Cocktail.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

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