Zum Inhalt springen

Eingenommene Atomkraftwerke «Das grösste Problem wird der Dieselnachschub für das AKW sein»

Atomkraftwerk Saporischschja: Professorin Annalisa Manera darüber, warum es gefährlich ist, wenn in Atomkraftwerken der Strom ausfällt.

Im Krieg hat Russland die Kontrolle über zwei Atomkraftwerke übernommen. Zuerst über das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl, dann über das grösste Atomkraftwerk Saporischschja. Die Kampfhandlungen beeinflussen den Betrieb der Anlagen. Tschernobyl etwa ist seit einem Tag von der Stromversorgung getrennt. Reparaturarbeiten seien derzeit nicht möglich, sagen die ukrainischen Behörden. Annalisa Manera ist Professorin für Nukleare Sicherheit an der ETH Zürich. Sie erklärt, was das für die Sicherheit bedeutet.

Annalisa Manera

Professorin für nukleare Sicherheit ETH Zürich

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Seit Sommer 2021 ist Manera Professorin an der ETH Zürich für Nuclear Engineering.

SRF News: Ist die fehlende Stromversorgung im Kernkraftwerk Tschernobyl problematisch?

Annalisa Manera: Das Problem sind die Brennelemente, die dort gelagert sind. Aber sie sind seit mehr als 20 Jahren dort. Das bedeutet, dass die sogenannte Nachzerfallwärme niedrig ist. Das heisst, dass die Brennelemente nicht mehr schmelzen können. Im Prinzip gibt es auch ohne Strom keine Gefahr radioaktiver Freisetzung.

Kraftwerke an sich gehören zu der lebenswichtigen Infrastruktur eines Landes.

Der ukrainische Aussenminister und die Betreiberfirma in der Ukraine kommen aber zu einem gegenteiligen Schluss, sie befürchten die Freisetzung von möglicher Strahlung. Wie beurteilen Sie das?

Ich kann mir nur vorstellen, dass der ukrainische Aussenminister versuchte, die EU noch besorgter zu machen, also um Hilfe zu erbitten.

Die russischen Streitkräfte haben vergangene Woche auch das ukrainische Kernkraftwerk in Sapporischschja erobert. Das ist das grösste AKW in Europa. Welche Gefahr geht von dieser Anlage aus?

Es ist nicht überraschend, dass das Militär die Kontrolle übernommen hat. Kraftwerke an sich gehören zu der lebenswichtigen Infrastruktur eines Landes. Das bedeutet nicht, dass Russland daran interessiert ist, die Anlage zu zerstören, denn eine mögliche Freisetzung von Strahlung hätte grösste Auswirkungen lokal und auf die Nachbarregionen, dazu gehört auch Russland. Es ist nur rund 300 Kilometer entfernt.

Man kann davon ausgehen, dass auch die russischen Streitkräfte daran interessiert sind, dass die Sicherheit in den Atomanlagen gewährleistet ist?

Ja, das bin ich mir sicher. Es kann passieren, dass Strukturen unabsichtlich attackiert werden. Wenn das Kraftwerk keinen Strom mehr hat, wird der Reaktor automatisch abgeschaltet. Aber er braucht Kühlung. Dafür braucht man Strom. Hat man den nicht, werden Dieselmotoren verwendet. Ich habe gelesen, dass die Dieselmotoren sieben Tage arbeiten können und es dann Nachschub an Diesel braucht.

Ein Stromausfall in Saporischschia ist verheerender als der in der Atomruine Tschernobyl?

Ja, eben wegen der Kühlung des Reaktors. Wie erwähnt, hat man dafür Dieselmotoren. Diese sind eigentlich geschützt. Deshalb denke ich, dass das grösste Problem der Nachschub nach sieben Tagen sein wird.

Die direkte Bombardierung eines Kernkraftwerks verstösst gegen die Genfer Konvention.

Kann man Kernkraftwerke so bauen, dass sie im Krieg kein bedeutendes Sicherheitsrisiko darstellen würden?

Kraftwerke werden nach dem Prinzip der Tiefenverteidigung gebaut. Es gibt mehrere Schranken zur Freisetzung von Radioaktivität. Das Containment in der Ukraine ist gegen einen Flugzeugabsturz gebaut und der Reaktor befindet sich tief darin. Man bräuchte schwere, gezielte Bombenangriffe, um den Reaktor zu erreichen. Natürlich ist ein Kernkraftwerk nicht für eine Bombardierung ausgelegt. Doch die direkte Bombardierung eines Kernkraftwerks ist gegen die Genfer Konvention. Wenn eine Regierung das Interesse hat, ein Kernkraftwerk so zu zerstören, ist sie auch bereit, eine Atombombe zu benutzen. Aber ich denke nicht, dass eine Regierung dies will.

Das Gespräch führte Leonie Marti.

SRF 4 News, 10.03.2022, 09:14 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel