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Einordnung der «Gilets Jaunes» «Bewegungen stilisieren sich selbst als ‹das Volk›»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geht einen grossen Schritt auf die «Gelbwesten» zu und macht grössere Zugeständnisse in der Sozialpolitik. Damit beugt sich die Politik ein Stück weit dem Druck der Strasse. Proteste in dieser Form sind jedoch nichts Neues, wie Protestforscher Dieter Rucht im Gespräch mit SRF sagt. Im Gegenteil, sie seien historisch gesehen sogar vergleichbar.

Dieter Rucht

Protestforscher am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berln

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Der Soziologe ist Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er gilt als einer der besten Kenner sozialer Bewegungen, von der 68er-Bewegung bis zu Pegida.

SRF News: Der Protest der «Gilets Jaunes» zeigt offenkundig Wirkung. Gewinnt der Strassenprotest politisch an Bedeutung?

Dieter Rucht: Strassenproteste waren immer bedeutsam, zumindest in den letzten 150 Jahren. Mal ist es so, dass die etablierte Politik Vorrang hat und routinemässig ihre Geschäfte abwickelt, mal brodelt es in der Gesellschaft. Dazu gehören solche Proteste wie jetzt in Frankreich.

In den letzten Jahren gab es verschiedene Proteste, von Occupy bis Pegida. Gibt es bei diesen Bewegungen Parallelen zu den «Gilets Jaunes»?

Ja, es gibt Parallelen. Sie betreffen die äussere Form, nicht die Inhalte. Parallelen sind eindeutig die schwache Organisation, die Ablehnung von Repräsentanten und stabilen Strukturen. Parallel ist auch der Zielpunkt, nämlich, wer als Gegner identifiziert wird. Die Gegner sind die politische Klasse, die Berufspolitiker, das sind die Altparteien.

Bewegungen sind bürgernah. Sie sind vom Begriff her dynamisch vorwärts strebend.

Bei Pegida kommen die Demonstranten von rechts, bei den «Gilets Jaunes» ist es noch nicht ganz klar. Doch ihre Proteste erinnern unwillkürlich an den früheren Klassenkampf der Linken.

Ja, wir haben generell und historisch linke und rechte Varianten des Populismus. Es gibt zunächst einmal Bedürfnisse des kleinen Mannes, die Bedürfnisse der gewöhnlichen Leute. Die werden häufig durch die Politik nicht befriedigt. Das führt zu Unmut. Der lässt sich sowohl von linksradikaler Seite als auch von rechtsradikaler Seite aufgreifen und thematisieren. Das populistische Element ist, dass man sich selbst als das Volk stilisiert. Man formuliert es so, dass man vorgibt, eine einheitliche Interessenlage zu haben. Aber es gibt Unterschiede zwischen rechts und links. Die Linken sind traditionell eher idealistisch humanistisch, auch demokratisch orientiert. Bei den Rechten ist es anders, da wird die eigene Nation, die eigene Ethnie gegen andere abgegrenzt. Es war ja die Migrationswelle, die rechten Gruppen in Europa erstarken liess.

Aber die Linken verlieren EU-weit in den letzten Jahrzehnten überall hohe Wähleranteile.

Ja. In Frankreich ist durch die Schwäche der Gewerkschaft und die Schwäche der sozialistischen Partei ein Vakuum entstanden. Da stösst nun die Bewegung der «Gilets Jaunes» hinein, obwohl sie nicht eindeutig als linke Bewegung zu erkennen ist. Im Forderungskatalog, der von einem Teil der Bewegung erstellt wurde, sind es vor allem soziale Forderungen wie Absicherung der Renten, Erhöhung des Mindestlohnes und dergleichen.

Warum haben die Parteien so Mühe, diese Leute zurückzugewinnen?

Das hängt auch mit der Form von Parteien zusammen. Parteien sind etablierte, zum Teil hierarchische Organisationen. Man muss einen Beitrag bezahlen, Mitglied werden, man sitzt in diversen Gremien und da gibt es eine Tagesordnung, die brav abgearbeitet wird. Bei Bewegungen ist der Assoziationsgehalt ein anderer. Bewegungen sind bürgernah. Sie sind vom Begriff her dynamisch vorwärts strebend.

Das sind im Kern sehr kurzlebige Gruppierungen, die stark von der medialen Aufmerksamkeit des Moments leben.

Aber sind bei einer Bewegung überhaupt nachhaltige Erfolge denkbar?

Das ist das grosse Problem. Wir haben die Pegida und Occupy angesprochen. Das sind im Kern sehr kurzlebige Gruppierungen, die stark von der medialen Aufmerksamkeit des Moments leben. Sie fallen schnell wieder in sich zusammen.

Das Gespräch führte Barbara Büttner.

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