Ellen Johnson Sirleaf regierte von 2006 bis 2018 Liberia. Sie ist Friedensnobelpreisträgerin. Und noch heute ist die 83-jährige «Eiserne Lady Afrikas» an vielen Fronten tätig – für die UNO oder im exklusiven Klub ehemaliger Spitzenpolitiker, «The Elders». Im Gespräch mit SRF erzählt sie von ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Bedenken – als Politikerin, Liberianerin und Frau.
SRF News: Vor genau zehn Jahren erhielten Sie den Friedensnobelpreis. Seither hatte der Frieden vielerorts keinen Aufwind: Wir sehen mehr Spannung, mehr Konflikte, mehr Kriege. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Ellen Johnson Sirleaf: Ich mache mir grosse Sorgen um den Zustand der Welt, um die Art und Weise, wie sie geführt wird. Viele Länder, gerade in Afrika, unternahmen viel, um zu Demokratien zu werden. Der Wandel war enorm. Es gab Revolutionen. Es gab Militarismus. Doch wir entschieden uns am Ende vielerorts für die Demokratie.
Wir schlittern Richtung Autoritarismus.
Doch nun ist die Demokratie unter Druck, wird herausgefordert. Wir schlittern Richtung Autoritarismus. Wir erleben in Afrika auf einmal wieder Staatsstreiche – obschon wir glaubten, uns von solchen Dingen emanzipiert zu haben. Dies, aber auch die Abkehr von multilateraler Zusammenarbeit, ist besorgniserregend.
Was könnte, was müsste unternommen werden?
Wir müssen wieder zusammenfinden. Ich bin froh, dass das jüngst bei der Eröffnung der UNO-Generalversammlung viele Staatsoberhäupter erkannt haben. Wir hörten Bekenntnisse zu den UNO-Nachhaltigkeitszielen. Wir hörten viele sagen, dass die Gräben zwischen Arm und Reich, welche die Corona-Pandemie weiter aufgerissen hat, überwunden werden müssen. Jetzt müssen wir beobachten, ob den Worten auch Taten folgen.
Immer mehr Länder driften in Richtung Diktatur. Immer mehr Leute halten ein autoritäres System nach chinesischem Vorbild, das wirtschaftliche Erfolge bringt, für attraktiv. Sind Sie noch immer überzeugt, dass die Demokratie die beste Staatsform ist?
Ja, das bin ich. Ich kann autoritären Tendenzen nichts abgewinnen. Denn früher oder später wird daraus eine Diktatur. Die Diktatur hat noch nie die Rechte und Beteiligung der Menschen gefördert, erst recht nicht die der Benachteiligten. Auch die Demokratie ist nicht perfekt. Hingegen sehen wir einen klaren Zusammenhang zwischen Demokratie, Entwicklung, Sicherheit und Nachhaltigkeit.
Sie traten nach zwei Amtszeiten als Präsidentin Liberias zurück. Doch immer mehr Ihrer afrikanischen Amtskollegen klammern sich Jahrzehnte an die Macht, manipulieren die Verfassung, um länger am Ruder zu bleiben.
Wandel braucht Zeit. Und es braucht Zeit, um zu lernen, gewisse Verhaltensregeln einzuhalten. Ja, es gibt noch einige Ecken in Afrika, in denen die alte Ordnung der Diktatoren hochgehalten wird. Aber ich sehe mit Genugtuung, dass wir starke regionale Institutionen bauen. Die Afrikanische Union wird stärker und Applaus verdient die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft. Sie setzt sich entschlossen für mehr Demokratie und für eine gemeinsame Entwicklung ein.
Sie sehen also viele positive Entwicklungen in Afrika. Neigen wir im Westen zu einem allzu düsteren Afrikabild?
Ich bleibe optimistisch für Afrika. Und es gibt gute Gründe dafür. Afrika wird häufig falsch dargestellt. Die Berichterstattung ist oft eher «sensationalistisch» als substanziell. Das erklärt die verbreitete negative Sichtweise, gerade in Europa. Doch wenn man schaut, was tatsächlich passiert, kommt man zu einem anderen Bild.
Unsere jungen Leute, technikaffin und engagiert, wollen etwas erreichen. Ich glaube an eine Zukunft, die den Völkern Afrikas gehört.
Vergessen wir nicht, woher Afrika kam: aus dem Nichts. Es war ein Kontinent zum Ausbeuten von Ressourcen. Erst seit etwa 40 Jahren kann Afrika sein Schicksal selbst bestimmen. Noch heute ist die ausländische Einmischung oft gewaltig. Und dennoch: Insgesamt ist Afrika der Kontinent der Zukunft. Unsere jungen Leute, technikaffin und engagiert, wollen etwas erreichen. Ich glaube an eine Zukunft, die den Völkern Afrikas gehört.
Sie engagieren sich für mehr Frauen in Führungspositionen. Wäre die Welt eine bessere, wenn wir viel mehr Regierungschefinnen hätten?
Daran habe ich keine Zweifel. Eine Welt, geführt von Frauen, wäre eine andere, ein neue, eine bessere Welt. Weil ich davon überzeugt bin, habe ich eine Organisation gegründet, die Frauen darauf vorbereitet, Spitzenposten im öffentlichen Dienst zu übernehmen.
Worin gründet Ihre Überzeugung? Was machen Frauen anders, besser?
Frauen stützen ihre Entscheidungen auf das, was richtig und nötig ist. Nicht auf populistische Überlegungen und nicht allein mit der Wiederwahl im Visier.
In vielen Ländern tun sich Gräben auf, nimmt die Polarisierung der Gesellschaft zu – selbst in alten Demokratien wie den USA. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Das muss mir Sorgen bereiten. Zumal manche dieser Länder über ihre Grenzen hinaus grossen Einfluss haben und sich einmischen. Wenn diese Länder nicht mehr gemäss den Prinzipien funktionieren, die sie sich selbst gegeben haben, hat das auch einen negativen Einfluss auf uns. Ich hoffe sehr, dass diese Polarisierung ein vorübergehendes Problem ist, dass wir nicht weiter hineinschlittern, sondern die Entwicklung in den nächsten Jahren wieder korrigiert werden kann.
Während Ihrer Präsidentschaft litt auch Liberia grausam unter dem Ebola-Virus. Die Welt reagierte zögerlich. Jetzt, angesichts von Corona, passiert weitaus mehr. Macht Sie diese Ungleichbehandlung, je nachdem, ob eine Pandemie nur arme oder auch reiche Länder erfasst, wütend?
Ebola tauchte in manchen Teilen Afrikas sogar noch viel früher auf als in Westafrika. Es gab kaum Bestrebungen, einen Impfstoff zu entwickeln. Ja, es gab etwas Unterstützung, es gab einige Partnerschaften. Aber wir sahen nicht annähernd ein so entschiedenes Vorgehen wie wir es heute sehen. Aber auch jetzt, da auch die finanziellen Anstrengungen gigantisch sind, müssen wir uns fragen: Worauf zielen sie? Die meisten Berichte, die ich lese, zeigen, dass hauptsächlich die Reichen reicher gemacht werden. Bis heute gibt es nicht genügend Impfstoffe für die armen Länder.
Im Kampf gegen Corona fliessen Hunderte von Milliarden. Fehlen diese Mittel nun für die Bekämpfung anderer Krankheiten wie Malaria?
Ich glaube nicht. Natürlich gibt es eine temporäre Fokussierung auf Covid-19. Und das ist richtig, das Virus breitet sich weiter aus, es muss bekämpft werden. Aber es gibt viele andere ansteckende Krankheiten, welche ebenfalls die ganze Welt gefährden. Wenn sie nicht überall besiegt sind, sind sie nirgends besiegt. Das ist die Konsequenz einer total vernetzten Welt, in der auch Viren problemlos Grenzen überqueren.
Was wir hauptsächlich brauchen, sind bessere nationale Gesundheitssysteme. Besässen wir sie, könnten wir die jetzige Pandemie beenden und künftige vermeiden.
Was wir hauptsächlich brauchen, sind bessere nationale Gesundheitssysteme. Und zwar in jedem einzelnen Staat. Besässen wir sie, könnten wir die jetzige Pandemie beenden und künftige vermeiden. Ich war Co-Vorsitzende des UNO-Panels zur Pandemiebekämpfung. Wir müssen überall, selbst in wohlhabenden Ländern, die Gesundheitsvorsorge und -versorgung auf Kurs bringen.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.