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Erdbeben Türkei-Syrien «Hunderttausende leben noch in Containern und Zelten»

Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei gewaltige Erdstösse die Türkei und Syrien. Auf einer Fläche mehr als doppelt so gross wie die Schweiz kamen laut Regierungsangaben rund 60'000 Menschen ums Leben, viele mehr wurden verletzt. Die Folgen sind bis heute gravierend, wie Felix Gnehm vom Hilfswerk «Solidar Suisse» nach einer Reise ins Krisengebiet berichtet.

Felix Gnehm

Co-Direktor von Solidar Suisse

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Felix Gnehm ist Direktor von Solidar Suisse. Zuvor hatte der Naturwissenschaftler vier Jahre lang die Abteilung Internationale Programme bei der Schweizer Entwicklungsorganisation geleitet.

SRF News: Wie ist die Lage im Erdbebengebiet nach einem Jahr?

Felix Gnehm: Das Ausmass der damaligen Beben hinterlässt auch nach einem Jahr einen grossen Eindruck. Zwar hat die Türkei die Spuren in gewissen Zonen schnell weggeräumt. Gleichzeitig geht es sehr vielen Menschen sehr schlecht, die bisher wenig Hilfe bekamen.

Woran fehlt es am meisten?

An einem Dach über dem Kopf. Hunderttausende von Menschen leben im Winter mit Kindern in schlecht isolierten Containern oder Zelten. Das ist kein Leben. Die Versorgung mit Wasser und Nahrung ist für viele Familien weiterhin humanitär prekär. Die Armut ist stark gestiegen.

In welchen Zonen sind die Arbeiten fortgeschritten?

Ein Beispiel ist die Stadt Kahramanmaras, die im Epizentrum eines Bebens lag und stark zerstört wurde. Dort wurden in den Vororten schon etliche zerstörte mehrstöckige Gebäude weggeräumt. Plakate zeigen, wie bis Ende Jahr 150'000 neue Häuser entstehen sollen, was allerdings bei Weitem nicht ausreicht.

Nicht geräumt wurde bisher in den ehemals dicht besiedelten Altstädten. Sie sind zerstört und nicht mehr bewohnbar.

Die Versprechen nach dem Beben in der Türkei waren gross, wie läuft der Wiederaufbau insgesamt?

Das ist schwierig zu beurteilen. Zum einen schnell, da die Türkei mit der nötigen Infrastruktur und schweren Geräten auffahren kann. Eine Katastrophenschutzbehörde und die nötigen Bauunternehmen sind vorhanden.

Kahramanmaras.
Legende: In der Stadt Kahramanmaras der gleichnamigen Provinz, wo das Epizentrum des Bebens lag, wurden innert Jahresfrist zahlreiche Häuserblocks errichtet. Imago/CTK Photos/PavelNemecek

Zum anderen ist die Dimension der Schäden fast unvorstellbar. Es wurden insgesamt mehr Häuser zerstört, als es in der ganzen Schweiz gibt. Ebenso gibt es viele Menschen, um die man sich in diesem ungleichen Land erst am Schluss kümmert. Die Dörfer auf dem Land werden zuletzt bedient. Dort kam wenig Hilfe an.

Funktioniert die Koordination unter den verschiedenen Organisationen, die im Einsatz sind?

Die Koordination mit der türkische Katastrophenschutzbehörde funktioniert sehr gut. Angesichts der seit 13 Jahren dauernden syrischen Flüchtlingskrise gibt es zudem bereits ein Dispositiv für Behausung, Wasser und Nahrung. Trotzdem können die enormen Bedürfnisse bei Weitem nicht abgedeckt werden. Es bräuchte weit mehr Organisationen und Mittel, um den Wiederaufbau zu beschleunigen.

Feier zum Jahrestag.
Legende: Angehörige von Erdbebenopfern gedenken am ersten Jahrestag der Beben am Kadikoy Pier in Istanbul der Toten. Imago/Sipa USA/Onur Dogman

Wie ist die Versorgungslage nach dem Beben im benachbarten Syrien?

Die Zerstörung in Syrien war geringer, weil im Gegensatz zur Türkei keine Megastädte betroffen waren. Doch angesichts des langen Bürgerkriegs sind die Bedürfnisse noch grösser. Zugleich kommen dort viel weniger Mittel an.

Dazu kommt die politische Blockade. Wegen eines Vetos Russlands ist der Transport von humanitären Gütern von der Türkei in den Norden praktisch blockiert. Das syrische Regime bedient vom Süden her die selbst kontrollierten Zonen, doch es gehen viele Regionen vergessen.

Wie kann sich in der nächsten Zeit die Lage in der Region verbessern?

Es hängt vom Willen der Türkei ab und welche Ressourcen das Land einsetzen kann. Den Wiederaufbau kann nur eine staatliche Behörde koordinieren. Dazu kommt die Frage, wie lange die Menschen geduldig bleiben. Ansonsten ziehen noch mehr Menschen weg.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 06.02.2024, 18:00 Uhr ; 

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