Für Aliye Gül ist am 6. Februar eine Welt untergegangen: ihre Welt der Kindheit, von Familie und Freunden, von ihrem Ehemann. Vor einem Jahr, mitten in der Nacht um 4:17 Uhr, spielt ihr Telefon verrückt. Eine Meldung nach der anderen kommt herein: Hilferufe, ängstliche Anfragen. Im Südosten der Türkei und vor allem in ihrer Geburtsstadt Antakya im Süden der Türkei soll es ein schreckliches Erdbeben gegeben haben.
Aliye Gül verbringt die nächsten Stunden voller Angst. Sie sitzt in ihrer Wohnung im entfernten Romanshorn am Bodensee. Nichts kann sie machen. Ihr Mann antwortet nicht. Wenige Tage zuvor ist er noch aus der Schweiz in die Türkei geflogen. In Antakya hat das Ehepaar seit zwei Jahren wieder eine Wohnung. Beide planen, als türkischstämmige Schweizer in der Heimat ihrer Eltern die wohlverdiente Pension zu verbringen.
Stunden später bebt die Erde noch einmal fürchterlich und begräbt Aliyes Ehemann. Er erliegt noch am selben Tag seinen inneren Verletzungen, nachdem Verwandte ihn bergen und ins ebenso zerstörte Spital bringen konnten.
Aliye erfährt all das erst Tage später. Allein drei Tage braucht sie, um per Auto über die verstopften Strassen aus Istanbul ins über tausend Kilometer entfernte Erdbebengebiet zu kommen. Mit dabei hat sie unter anderem Decken, warme Kleider und Powerbanks für Handyakkus.
Schon damals denkt die Thurgauerin auch an all die Menschen in der Not – trotz all dem Schmerz, den sie selbst erleiden muss. Neben ihrem Mann, mit dem sie 37 Jahre verheiratet war, sterben durch das Erdbeben vom 6. Februar an die 80 Verwandte und engere Freunde.
Aliye Gül erfährt gleichzeitig aus ihrer Schweizer Heimat eine enorme Solidarität. Als Gemeindeschreiberin von Uttwil und ehemalige Thurgauer Grossrätin ist sie gut vernetzt. Mit den Zuwendungen hilft sie den Erdbebenopfern, so gut sie kann. Im Sommer kann sie sogar Trinkwasser für die Zeltstädte organisieren und im Winter Schuhe für jene, die mittlerweile in Containern ausharren müssen.
Solange die Lokalpolitik in Antakya nicht mit der Zentralregierung in Ankara zusammenarbeitet, solange wird es auch nicht genügend Hilfe für diese Stadt geben.
Denn im Unterschied zu anderen vom Erdbeben betroffenen Grossstädten gehen die Rettungs- und Aufräumarbeiten in Antakya von Anbeginn nur schleppend voran.
Kurz vor dem Jahrestag erfährt Aliye Gül aus dem Mund ihres Staatspräsidenten auch, warum. Als Recep Tayyip Erdogan am Wochenende den ersten Familien die Schlüssel fertiger neuer Wohnungen überreicht, teilt er danach Parteifreunden mit: «Solange die Lokalpolitik in Antakya nicht mit der Zentralregierung in Ankara zusammenarbeitet, solange wird es auch nicht genügend Hilfe für diese Stadt geben, solange wird Antakya allein sein.»
Denn Antakya war bislang immer eine Hochburg der sozialdemokratischen CHP, der stärksten Oppositionspartei im Land. Diese Herrschaft will der Präsident und gleichzeitig Vorsitzende der nationalkonservativen AKP jetzt brechen: bei den anstehenden Kommunalwahlen Ende März.
Für Aliye Gül ist das ein Skandal: Machtpolitik auf dem Rücken von Erdbebenopfern. Gerade deshalb will sie jetzt erst recht den Menschen in ihrer Herkunftsstadt weiter helfen.