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Tiananmen-Massaker bleibt in China tabu
Aus News-Clip vom 31.05.2019.
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Erinnern verboten Das verordnete Schweigen von Tiananmen

Wer sich in China an das Tiananmen-Massaker erinnert, lebt gefährlich. Das Thema wurde bis heute nie aufgearbeitet.

Es war in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989. Chen Guang war nervös. Er war noch nicht einmal 17-jährig und verstand nicht ganz, warum er jetzt da raus sollte, um den Platz zu räumen.

Plötzlich wurde es hektisch

Tausende gleichaltrige Studenten sassen da draussen vor den Toren der Grossen Halle des Volkes, während er drinnen zusammen mit anderen Soldaten auf den Räumungsbefehl wartete. Seit Wochen harrten die Studenten friedlich aus. Viele von ihnen waren gezeichnet und geschwächt von tagelangem Hungerstreik.

In Zelten und unter behelfsmässigen Planen belagerten sie das Zentrum Pekings, den Platz des Himmlischen Friedens, den Tian'an men-platz wie er auf Mandarin heisst.

Und dann wurde es plötzlich hektisch. Die Tore öffneten sich. Befehle hätte es aber keine richtigen mehr gegeben, alles war chaotisch, einzig die Aufgabe war klar: Der Platz muss so schnell wie möglich geräumt werden, notfalls auch unter Einsatz der Gewehre, die man den jungen Soldaten ausgehändigt hatte.

Soldaten versuchen die Demonstranten in Schach zu halten.
Legende: Der einzige Auftrag an die Soldaten: «Der Platz muss so schnell wie möglich geräumt werden.» Keystone

Mord am eigenen Volk

Vor fünf Jahren erzählte mir der ehemalige Soldat Chen Guang seine Geschichte. Und seine Geschichte ist auch ein Teil von Chinas Geschichte, allerdings ein Teil, den man bis heute nicht in den chinesischen Geschichtsbüchern findet.

Er war einer von Tausenden Soldaten, die 1989 den TiananmenPlatz mit Gewalt räumen mussten. Immer noch tut sich Chinas Regierung schwer mit dem Massaker, das die Volksbefreiungsarmee damals mitten im Herz der Hauptstadt, direkt vor den Toren des historischen Kaiserpalastes an seinem eigenen Volk beging.

Denn es war mehr als nur Mord und Totschlag an den eigenen Leuten. Was 1989 passierte, war eine Entscheidung, die China wohl dahin gebracht hat, wo es heute steht: Zurück in die Mitte der globalen Weltordnung.

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Aus dem Archiv: Tagesbefehl an die Soldaten in Peking (1989)
Aus News-Clip vom 31.05.2019.
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Kollateralschaden Tiananmen

Wenige Wochen vor dem Massaker auf dem TiananmenPlatz weilte Michail Gorbatschow zum Staatsbesuch in Peking. Russlands Ikone der Öffnung verbreitete auch in China den Wind der Freiheit. Für Hunderttausende Chinesinnen und Chinesen war auch er ein Hoffnungsträger, der vielleicht auch Chinas Machtelite dazu bringen könnte, vom Kommunismus abzuschwören.

Doch es kam anders. Chinas Führung wollte bleiben. China sollte der Welt beweisen, dass auch ein kommunistisch regiertes Land reich werden kann. Den Preis, den es dafür bis heute zahlt, soll allerdings niemand kennen. Die Toten auf dem Tiananmenplatz wurden zum Kollateralschaden, genauso wie die Umweltsünden der letzten 30 Jahre. Was nicht sein soll, darf nicht sein in China und wer sich daran erinnert, soll es bitte vergessen.

Massaker am Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens)

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Hunderttausende demonstrierten 1989 während über sieben Wochen in ganz China gegen die kommunistische Regierung. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni räumte die Armee den Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Gewalt. Laut Amnesty International starben an den beiden Tagen in Peking zwischen mehreren hundert und mehreren tausend Menschen.

Verbrannte Erinnerung

Jahrelang trug auch Chen Guang seine Geschichte schweigend mit sich herum. Die Armee hatte er längst verlassen, das Gewehr mit einem Pinsel getauscht. Erst viele Jahre nach seinem Kunststudium wagte er sich erstmals, das Thema künstlerisch aufzuarbeiten, doch seither lässt es ihn nicht mehr los.

In seinem Atelier zeigt er mir Dutzende Arbeiten, die in Zusammenhang stehen mit dem Massaker des 4. Juni. Gemälde zeigen Soldaten, Chaos, brennende Armeefahrzeuge und immer wieder Haare. Menschenhaare wurden zur Obsession von Chen Guang. Er streut sie auf seine noch frischen Ölbilder, wo die Haare kleben bleiben. Genauso, wie die düsteren Bilder der Nacht vom 3. auf den 4. Juni kleben blieben.

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Ex-Soldat Chen Guang: «Vieles wissen heute nichts mehr über Tiananmen»
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Chen Guang ist sie bis heute nie mehr losgeworden. Ein Bild verfolgt ihn wie ein Fluch. «Plötzlich entdeckte ich diese langen Frauenhaare. Es war ein sauber geschnittener Skalp. Mitten im Abfall.» Er hat Tränen in den Augen als er mir die Szene beschreibt. Wir unterbrechen das Interview, bevor er weiterfährt und mir den Abend nach dem Massaker schildert. «Wir mussten das Chaos aufräumen, dass wir angerichtet hatten.»

Plötzlich entdeckte ich diese langen Frauenhaare. Es war ein sauber geschnittener Skalp. Mitten im Abfall.
Autor: Cheng Guan Künstler

Sie hätten einfach alles verbrannt, was sie fanden, erzählt mir der Künstler, auch die Haare der jungen Frau. «Ich stand einfach da, schaute in die Flammen und wartete bis alles niedergebrannt war.»

Keine Aufarbeitung

Längst ist der Platz wieder sauber. Nichts erinnert an das historische Blut, das bis heute daran klebt.

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30 Jahre Tiananmen-Massaker: Einschätzung von Korrespondent Nufer
Aus News-Clip vom 31.05.2019.
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Chinas Regierung hat sich nie für das Massaker entschuldigt oder es auch nur eingestanden. Chen Guang glaubt auch nicht daran, dass die Regierung das Ereignis jemals aufarbeiten würde. Denn eine Aufarbeitung dieses Massakers wäre auch ein Eingeständnis eines grossen Fehlers. Die kommunistische Regierung müsste zugeben, dass sie, um ihre Macht zu retten, das Leiden des eigenen Volkes in Kauf nahm.

Denn auch Chinas Regierung weiss, dass sie 1989 nicht gegen einen kleinen Haufen militanter Konterrevolutionäre vorging, wie es offiziell heisst. Die Bewegung von 1989 war am 4. Juni längst über Peking hinaus gewachsen und in Dutzende andere Provinzhauptstädte geschwappt. Es war ein grosser Teil von Chinas Bevölkerung, der damals nach Änderungen verlangte.

Übertünchte Geschichte

Seither hat sich China tatsächlich verändert. Das Land ist reich geworden und einem grossen Teil der Bevölkerung geht es nachweislich besser als damals. Zum grossen Erstaunen vieler hat Chinas kommunistische Regierung in den letzten 30 Jahren mehr Leute aus der Armut geholt, als je eine Regierung zuvor.

Genau darauf berufen sich Xi Jinping und seine Führungselite heute: Es ist ein Pakt, den Chinas Regierung 1989 unbewusst mit seinem Volk schloss: Schweigen gegen Wohlstand. Wer sich gegen den Pakt wehrt, fällt in Ungnade. Das musste auch Chen Guang vor fünf Jahren bitter erfahren.

Nach unserem Interview lud er uns damals zu einer Performance ein, die er zum 25. Jahrestag des Massakers veranstaltete. Eine Handvoll geladener Leute versammelte sich an jenem Abend in einem Künstleratelier in einem Vorort von Peking. Chen Guang hatte die Wände vollgepinselt mit Jahreszahlen. Die Zahlen symbolisierten die Jahre seit dem Massaker, die ganze Wand war vollgekritzelt, immer wieder stand da auch das Schicksalsjahr 1989.

Chen Guang übermalt alle Jahreszahlen seit 1989.
Legende: Kunst-Performance: Chen Guang übermalt alle Jahreszahlen seit 1989. SRF

Seelenruhig begann Chen Guang mit einem Farbroller die Zahlen zu übermalen, bis schliesslich die ganze Wand weiss getüncht war. Genau so, wie Chinas jüngste Geschichte. Am nächsten Tag verschwand Chen Guang. Er hatte den Pakt gebrochen.

(Sendebezug: Echo der Zeit, 26.05.2019)

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