Ein Auto braust spätabends mit überhöhtem Tempo die First Avenue in Manhattan hinauf. Der Fahrer schwenkt absichtlich nach rechts und fährt vor dem Personaleingang am UNO-Sitz eine junge Frau nieder. Sie wird mit schweren Kopfwunden und inneren Verletzungen ins Spital eingeliefert.
So dramatisch beginnt der Spionagethriller von Loraine Sievers mit dem Titel «Spionin wider Willen» («An UNwilling Spy»). Sie war jahrzehntelang für die UNO tätig und schrieb ein überaus kompetentes, viele hundert Seiten dickes und dennoch gut lesbares Standardwerk über den Sicherheitsrat.
Roman statt Autobiografie
Noch heute wird sie als Expertin ins mächtigste UNO-Gremium eingeladen. Sie beklagte neulich die wachsenden Spannungen, die die Ratsarbeit behinderten. Sie sind heute wieder ähnlich gross wie zu den Zeiten, in denen ihr Roman spielt: 1974, mitten im Kalten Krieg. Der UNO-Sitz war eine Hochburg der internationalen Spionage. Misstrauen regierte. Die Atmosphäre war aufgeladen.
Eigentlich plante Sievers eine Autobiografie, doch um dem Ruf der UNO nicht zu schaden, wählte sie die Romanform: Das Hauptquartier gebe ein grandioses Bühnenbild ab – mit seinen pompösen Sälen, endlosen Korridoren und verschlungenen Wegen, von den düsteren Kellern und Tiefgaragen bis zum Dach hoch oben auf dem Sekretariatsgebäude.
Anne Thomas – die neugierige Heldin
Die 24-jährige Amerikanerin Anne Thomas wird in den Strudel politischer und krimineller Machenschaften gerissen. Widerwillig, aber ein bisschen auch selber schuld, weil sie neugierig ist und sich hineinziehen lässt. Ein freundlich wirkender, aber letztlich gefährlicher New Yorker Polizeibeamter tritt auf, ebenso ein väterlicher FBI-Agent, und auch die reiche Kunstsammlung der UNO spielt eine wichtige Rolle
Es wird beschattet, gemauschelt, gedroht und gemordet. Der Thriller ist auch deswegen interessant, weil er zeigt, wie schwer sich die USA taten, als sie merkten, dass ihnen der UNO-Sitz neben Prestige auch Hundertschaften von Spionen aus dem sowjetisch beherrschten Ostblock bescherte.
So fürchteten die USA, dass gutgläubige Amerikanerinnen und Amerikaner wie die fiktive Anne Thomas als Agentinnen angeworben werden. Die Überwachung des UNO-Personals war intensiv, oft recht plump und entsprechend lästig.
Die Stellung der Frauen
Erhellend sind auch die Einblicke in die alltäglichen Abläufe der UNO, in die damals äusserst hierarchischen Strukturen und die krasse Benachteiligung von Frauen im Beamtenapparat.
Die Männer waren die Chefs. Oft aufgeblasen, mitunter inkompetent, da viele ihre Posten Länderquoten und nicht Qualifikationen verdankten. Die Frauen waren Sekretärinnen und Assistentinnen, hatten adrett auszusehen, Deux-Pièce und hochhackige Schuhe zu tragen. Auf einen Chefsessel schaffte es kaum eine.
Die Schlapphüte sind geblieben
Das zumindest hat sich geändert. Zurück sind aber die politischen Zwiste. Zwar betont Sievers, man könne die Probleme nicht direkt mit jenen des Kalten Kriegs vergleichen. Denn der technische Fortschritt habe das Geheimdiensthandwerk von Grund auf verändert.
Sievers stellt daher keineswegs in Abrede, dass bis heute vieles verdeckt laufe, dass die Vielvölkerorganisation UNO naturgemäss ein Tummelfeld der Schlapphüte ist. Eigentlich erstaunlich, dass der erste UNO-Spionageroman erst jetzt, bald 80 Jahre nach der Gründung der Weltorganisation erscheint.