Von der Steuererklärung, über die Heirat bis hin zur Scheidung – die Digitalisierung zieht sich in Estland durch alle Lebensbereiche. Die estnische Justiz- und Digitalministerin Liisa-Ly Pakosta erklärt, warum Estland die Nase vorne hat – und wieso sich das Modell auch für andere Länder eignet.
SRF News: In Estland können alle Dienstleistungen der Behörden auch online gemacht werden. Wie kam Estland zu dieser digitalen Vorreiterrolle?
Wir sind ein kleines Land und legen Wert auf Effizienz. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion in den neunziger Jahren wollten wir einen vertrauenswürdigen, korruptionsarmen Staat aufbauen. Der effizienteste Weg, öffentliche Dienstleistungen anzubieten, ist digital.
SRF News: Gerade nach der Erfahrung der allgegenwärtigen Überwachung zu Sowjetzeiten: Wie haben Sie das Vertrauen der Bevölkerung in ein neues digitales System gewonnen?
Neben technischen Fragen spielt das Vertrauen der Bevölkerung bei der digitalen Transformation eine zentrale Rolle. Bei Papierakten weiss man nie, wer sie eingesehen hat. In Estland können die Bürgerinnen und Bürger hingegen jederzeit über eine App oder am Computer nachprüfen, welche Behörde auf ihre Daten zugegriffen hat. Diese Nachverfolgbarkeit schafft Vertrauen.
Bei physischen Akten weiss man nie, wer sie eingesehen hat.
SRF News: Ein häufiges Argument gegen die Digitalisierung ist, dass sie ein Land anfälliger für Cyberangriffe macht. Was entgegnen Sie dieser Befürchtung?
Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in der Ukraine gesehen, wie Papierarchive gestohlen oder zerstört wurden. Die estnische digitale Architektur wurde von Anfang an mit extremer Cybersicherheit konzipiert. Wir haben keine zentrale Datenbank, sondern viele separate Datenbanken. Wenn eine Datenbank kompromittiert wird, sind die anderen nicht betroffen. Ausserdem haben wir eine Sicherheitskopie aller Daten im Ausland in einem Datenzentrum in Luxemburg.
SRF News: Trotzdem gab es in der Vergangenheit Sicherheitslücken, zum Beispiel 2017 bei der digitalen Identitätskarte. Wie gehen Sie damit um?
Wir sprechen immer offen über digitale Risiken oder Fehler. Vollständige Transparenz schafft Vertrauen. 2017 haben wir die betroffenen Identitätskarten ersetzt und das Sicherheitssystem verbessert. Das Vertrauen der Bevölkerung in die E-ID hat dadurch nicht gelitten.
Wer sein Geld einem E-Banking-System anvertraut, ist in der Regel auch offen für eine digitale Verwaltung.
SRF News: Lässt sich das estnische Modell auf andere Länder übertragen?
Ja, absolut. Die Ukraine nutzt bereits heute viele Komponenten unseres Systems. Das zeigt, dass eine digitale Verwaltung auch – oder sogar gerade – in Kriegszeiten effizient funktionieren kann. Im Grunde ist jedes Land, in dem die Bevölkerung online Banking benutzt, bereit für die Digitalisierung. Wer sein Geld einem E-Banking-System anvertraut, ist in der Regel auch offen für eine digitale Verwaltung.
Das Gespräch führte Jasmin Gut.