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EU-Gipfel in Tallin Europa-Gipfel als «Song Contest»

Beim Treffen in Estland zeigt sich: Macrons EU-Rede hat bereits einiges ausgelöst.

Die Staats- und Regierungschefs der EU trafen sich gestern und heute in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Sie diskutierten dabei über die digitale Welt, wie die EU die digitalen Herausforderungen meistern kann. Im Zentrum stand aber etwas ganz anderes - die Rede von Emmanuel Macron über die EU, welche er am Dienstag hielt und seine Vorstellungen über die Zukunft der EU.

Da war zuerst das informelle Abendessen der Staats- und Regierungschefs – der diplomatische Ausdruck für ein lockeres Abendessen der Chefs unter sich, ohne Berater, ohne genaues Protokoll, mit etwas gelockertem Hemdkragen. Gleich zu Beginn ergriffen der französische Präsident Emmanuel Macron und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Wort. Beide legten ihren Kollegen nochmals exklusiv ihre Grundüberlegungen zur Zukunft der EU dar, die sie beide in ausführlichen Reden auch der Öffentlichkeit präsentiert hatten

Junckers Broschüre

Macrons Rede von Anfang Woche hallte noch nach. Juncker liess es sich nicht nehmen, seinen Kollegen gleich noch eine Hochglanzbroschüre zu unterbreiten, in der er die Unterschiede und Gemeinsamkeiten seiner und Macrons Überlegungen auf den Punkt bringt. «Two Visions, one Direction» ist der Titel der Broschüre. Wer wollte da Böses dabei denken.

Tusks Vergleich

Donald Tusk wiederum, Präsident des Europäischen Rates, liess es sich nicht nehmen, diesen Ideenwettbewerb mit dem «Eurovision Song Contest» zu vergleichen. «Manche dächten, es sei ein solcher – und vielleicht sei es das ja tatsächlich», so Tusk. Dieser «Song Contest» könne aber nur dann fruchtbar sein, wenn alle unisono – also: einstimmig – sängen.

Dieser etwas saloppe Vergleich von Tusk bringt die Bedenken vieler auf den Punkt, dass zu hochfliegende Vorstellungen über die Zukunft der EU Enttäuschungen auslösen könnten – weil sie am politisch Machbaren scheitern. Und dass vor allem Macrons Vorstellungen den Graben zwischen West und Ost zusätzlich vertiefen könnten. Er fordert nämlich, dass einzelne Länder auch sollen vorwärts machen können, wenn andere das nicht wollen und zurückbleiben.

Erstaunliche Harmonie

Zahlreiche Diplomaten berichten aber, dass es am Gipfel und vor allem beim gestrigen Abendessen trotzdem erstaunlich harmonisch zu und her gegangen sei. Die Gefahr bestehe aber, dass eine kontroverse öffentliche Debatte im Keime erstickt wird, wenn nun von Anfang an der Fokus auf das Machbare und auf Einstimmigkeit gerichtet wird. Und die Debatte zuletzt auch nicht mehr viel bringt.

Ratspräsident Donald Tusk muss nun bis in zwei Wochen einen Vorschlag für das weitere Vorgehen ausarbeiten. Ein Regierungsprogramm quasi, für die kommenden zwei Jahre. Die Staats- und Regierungschefs wollen das «entstandende Momentum» nutzen, um vorwärts zu machen.

Die Rolle Deutschlands

Macrons Rede wirkt also. Ob die Regierungschefs aber beispielsweise auch das Volk in die Debatte miteinbeziehen wollen, wie dies Macron fordert, muss sich erst noch weisen.

Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel meldete sich noch spätabends zu Wort: Sie werde sich einbringen. Bis zur Bildung einer neuen deutschen Regierung wird sie vor allem auch Fragen stellen. Fragen, welche auch ihre möglichen Koalitionspartner stellen könnten. Das ist nicht gerade viel. Deutschland wird bei der Debatte der nächsten Monate also wohl keine sehr zentrale Rolle spielen.

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