SRF News: Seit Martin Schulz Kanzlerkandidat der SPD ist, ist ein Machtwechsel in Berlin realistisch. Was hat dieser Mann, dass dies auf einmal möglich scheint?
Adrian Arnold: Schulz ist eine seriöse, wählbare Alternative zu Merkel. Er spricht mit seiner Biographie (Schulabbruch, kein Abitur, Alkoholprobleme, dann Aufstieg zum EU-Parlamentspräsidenten ) die einfachen Leute an. Und er strahlt zur Zeit grosse Lust und Freude an der Politik und am Machtwechsel aus, welche viele mitzieht.
Schulz ist nicht Sozialist – er ist Sozialdemokrat, der durchaus wirtschaftsliberale Ideen vertritt.
Für einen erfolgreichen Wahlkampf braucht es die Rückendeckung der Partei. Wie ist Schulz in der Partei verankert? Welchem Flügel gehört er an?
Er ist in der deutschen SPD kaum verankert, weil er so lange im EU-Parlament war. Deshalb ist es schwierig, ihn einem Parteiflügel zuzuordnen. Schulz galt damals als Befürworter von Schröders Agenda 2010. Nun hat er angekündigt, gewisse Teile dieser Arbeitsmarktreformen rückgängig zu machen, dem Neoliberalismus den Kampf anzusagen. Damit geht er auf die Gewerkschaften und den linken Flügel der Partei zu. Wohl auch um sich und die SPD klarer links von der Mitte zu positionieren und sich von Kanzlerin Merkel abzugrenzen.
Er ist ein begnadeter Redner, aber was ist eigentlich das politische Programm des Martin Schulz?
Das gibt es noch nicht. In seiner Antrittsrede hörte man stark eine Rückbesinnung auf den Kern der Sozialdemokratie – auf die soziale Gerechtigkeit – heraus. Wie er aber Ziele wie Lohngleichheit oder Rentenanpassung erreichen will, das muss er erst noch definieren. Und spätestens da wird er die ersten Wähler, entweder die ganz rechts oder die ganz links, vor den Kopf stossen.
Welche Richtungen in Sachen Europapolitik vertritt Schulz im Vergleich zu Merkel?
Die würde ich als nahezu identisch bewerten. Beide stehen für ein starkes Europa und beide stehen für mehr Integration. Allerdings dürfte Merkel im bevorstehenden Reformprozess der EU offener für mehr Selbstbestimmung und Autonomie der einzelnen EU-Mitgliedstaaten sein als der langjährige «EU-Apparatschik» Schulz.
Schulz ist kein Populist.
Die Union nennt ihn einen Populisten von der Marke Trumps. Ist der Vergleich zulässig?
Davon halte ich gar nichts. Schulz ist kein Populist, der dem Volk mehr Mitsprache, mehr Macht verspricht und er ist auch kein Nationalist, der Werte wie eigene Identität und nationales Bewusstsein propagiert.
Trotzdem sollen sich selbst AfD-Sympathisanten und Linke von Schulz angezogen fühlen. Ist dies also nicht das Ergebnis des vermeintlichen Populismus von Schulz?
Nein. Das ist vielmehr der Ausdruck von «Merkel-muss-weg»-Ressentiments. Merkel hat mit ihrer Flüchtlingspolitik die deutsche Gesellschaft gespalten. Viele sorgen sich wegen Merkels Flüchtlingspolitik um ihre Sicherheit und um ihre Zukunft. Für diese «Merkel-muss-weg»-Anhänger steht Schulz nun als Alternative. Paradoxerweise, stehen sich Merkel und Schulz auch in der Flüchtlingspolitik sehr nah, aber Merkel ist in den Augen der «Merkel-muss-weg»-Anhänger jene, welche die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hat.
Die Sympathie- und Umfragewerte für Schulz und die SPD sind regelrecht explodiert. Was sind dafür die Gründe?
Es liegt an Schulz' Enthusiasmus, an seiner Lust, die er versprüht. Damit hat er die zuletzt uninspirierte und blutleere SPD reanimiert. Gleichzeitig wirkte Merkel zuletzt müde und lustlos, aufgerieben vom Dauerstreit mit der Schwesterpartei CSU und mit Horst Seehofer. Dass sich dies aber so schnell in starken Umfragewerten ausschlägt, ist sicherlich auch ein Beleg dafür, dass es nach 12 Jahren Merkel eine grosse Sehnsucht nach einer Alternative gibt.
Sind die Deutschen ihrer Kanzlerin überdrüssig?
So weit würde ich nicht gehen. Merkel hat immer noch Zustimmungs- und Beliebtheitswerte von deutlich über 50 Prozent. Davon können andere Regierungschefs nur träumen. Deutschland steht wirtschaftlich sehr gut da, die Arbeitslosenquote liegt bei niedrigen rund 6 Prozent. Und Merkel steht in Zeiten von Trump und Brexit für Stabilität. Ich würde die Kanzlerin trotz der momentanen Schulz-Euphorie noch lange nicht abschreiben.
Er hat noch kein detailliertes Programm. Damit hat noch niemand eine Wahl gewonnen.
Wo ist er denn angreifbar?
Seine Schwäche ist seine momentane Stärke. Er hat noch kein detailliertes Programm. Damit hat noch niemand eine Wahl gewonnen. Zudem hat er als EU-Parlamentspräsident lange im EU-Apparat gewirkt und Privilegien genossen. Solche Ämter und Positionen bieten Angriffsfläche.
Das Gespräch führte Oliver Roscher.