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Europäischer Gerichtshof «Wir können uns der Sogwirkung des EU-Rechts nicht entziehen»

Was ist der Preis für eine Teilnahme am europäischen Binnenmarkt? Das ist die Grundsatzfrage, welche sich beim neuen Verhandlungsmandat des Bundesrats für die Gespräche mit der EU stellt. Europarechtler Matthias Oesch ordnet ein, was sich mit den vorgelegten Verhandlungsgrundsätzen tatsächlich verändern würde.

Matthias Oesch

Jurist

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Matthias Oesch ist Rechtsanwalt und Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Zürich. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Zuvor war er Legal Counsel im Staatssekretariat für Wirtschaft.

Wie stark ist die Schweiz bereits heute vom europäischen Recht geprägt?

Meines Erachtens durchaus mehr, als uns bewusst ist. Sei es durch das EU-Recht im Allgemeinen oder auch durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Besonderen.

Es gibt Rechtsbereiche, in denen die Schweiz freiwillig europäisches Recht übernimmt. Warum tun wir das?

Auch wenn die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, können wir uns der Sogwirkung des EU-Rechts nicht vollständig entziehen. Mit diesem autonomen Nachvollzug versucht die Schweiz, die Nachteile als Nicht-EU-Mitglied im Binnenmarkt zu minimieren.

Eine EU-Flagge weht vor dem Bundeshaus
Legende: Die Schweiz kann EU-Recht nicht komplett entfliehen, ist der Europarechtler überzeugt. Keystone/ANTHONY ANEX

Wie würde sich die Rolle des EuGH ändern, wenn das aktuelle Verhandlungsmandat zwischen der Schweiz und der EU wie vorgelegt verabschiedet würde?

Wenn sich die Schweiz und die EU heute über die Auslegung eines bilateralen Abkommens nicht einig sind, wird auf politischem Weg versucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Die Möglichkeit, sich an eine gerichtliche Instanz zu wenden, besteht heute noch nicht.

Der EuGH wird also wichtig, wenn sich die Schweiz und die EU künftig nicht einigen können?

Genau. Wenn ein Streit auf politischem Weg nicht gelöst werden kann, haben beide Parteien die Möglichkeit, die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu verlangen. Dieses setzt sich aus unabhängigen Personen aus der Schweiz und der EU zusammen. Ein Schiedsgericht ist nichts Neues, neu wäre, dass der EuGH bei der Auslegung von EU-Recht ins Spiel käme. Denn manche bilateralen Verträge beruhen auf dem EU-Recht. Die Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH ist für den Entscheid des Schiedsgerichts dann massgebend.

Kritische Stimmen halten es für unsinnig, im Streitfall ein Gericht der Gegenpartei bestimmen zu lassen.

Dies ist in der Tat der Haupteinwand. Dies unterstützt das Narrativ der fremden Richter. Meiner Meinung nach zielt dieser Einwand ins Leere. Natürlich ist der EuGH institutionell das Gericht der Gegenseite. Aber in dieser konkreten Situation ist der EuGH das Gericht des Binnenmarktes, an dem die Schweiz sektoriell und aus freien Stücken teilnimmt.

Ein weiterer umstrittener Punkt im aktuellen Verhandlungsmandat ist die dynamische Rechtsübernahme. Was bedeutet das konkret für die Schweiz?

Die Schweiz kennt das System der dynamischen Rechtsübernahme bereits aus den Schengen-/Dublin-Abkommen. Seit 2004 wurden auf diesem Weg 380 Rechtsakte übernommen; drei davon kamen vor das Schweizer Stimmvolk. Aus meiner Sicht ist die dynamische Rechtsübernahme das eigentliche Kernstück der geplanten institutionellen Neuregelung. Damit macht die Schweiz einen qualitativ bedeutenden Integrationsschritt in das Recht der EU, da die Schweiz fast wie ein Mitgliedstaat sektoriell in den EU-Binnenmarkt eingebunden wird. Die dynamische Rechtsübernahme ist der Preis, den die Schweiz für die sektorielle Teilnahme am Binnenmarkt zahlen muss, ohne Vollmitglied der EU zu werden.

Gespräch führte Simone Hulliger, Mitarbeit Géraldine Jäggi.

Tagesgespräch, 22.02.2024, 13 Uhr ; 

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