Jean Asselborn war 19 Jahre lang Aussenminister von Luxemburg. Mitte November ist eine neue Regierung angetreten. Im «Tagesgespräch» analysiert der Sozialdemokrat den Zustand Europas und gibt Einblicke in den Brüsseler Politbetrieb.
SRF News: 19 Jahre waren Sie «Aussenminister Jean Asselborn». Nun sind Sie einfach wieder «Jean Asselborn». Wie geht es Ihnen?
Jean Asselborn: Ganz gut. Ich fahre viel Rad, verfolge natürlich die Politik, vor allem die Aussenpolitik. Und ich fühle mich etwas freier als die letzten fast zwei Jahrzehnte.
Die EU will mit der Ukraine Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Ein Entscheid, der allerdings nur möglich war, weil Ungarns Ministerpräsident Orban einwilligte, bei der Abstimmung den Raum zu verlassen. Was sagt dieses Manöver über den heutigen Zustand der EU?
Nicht viel Gutes. Es ist zwar gut, dass die Verhandlungen dadurch angenommen wurden, aber Viktor Orban treibt die EU in Sachen Werte vor sich her. Es ist nicht gut, dass ihm der deutsche Bundeskanzler sagen muss, er solle Kaffee trinken gehen, damit die Europäische Union diesen wichtigen Schritt machen kann. Es zeigt, dass Orban bei den Europaparlamentswahlen im kommenden Sommer der Anführer derer sein will, welche die EU rückwärts entwickeln wollen. Nicht in Richtung mehr Integration.
Sie haben viele Krisen in der EU miterlebt. Sind Sie manchmal erstaunt, dass es die EU überhaupt noch gibt, dass sie nicht auseinandergebrochen ist?
Ja. Es ist kein Wunder, aber es ist schon bemerkenswert. Und Sie wissen auch, dass wir zehn Länder haben, die an unsere Tür klopfen und beitreten wollen. Allerdings, ich muss sagen, bei der Migration haben wir versagt. Die Länder im Süden haben keine Garantie, dass ihnen die Länder in der Mitte und im Norden Europas helfen. Darum werden viele Migrantinnen und Migranten einfach durchgewunken. Mit der Konsequenz, dass wir nun dieses Chaos haben mit der inneren Migration und verschiedene Staaten wieder Grenzkontrollen eingeführt haben.
Die Länder im Süden haben keine Garantie, dass ihnen die Länder in der Mitte und im Norden Europas helfen. Darum werden viele Migrantinnen und Migranten einfach durchgewunken.
Hatten Sie als Aussenminister von Luxemburg einen Vorteil? Die deutsche Aussenministerin Baerbock sagte, dass Sie als Vertreter eines kleinen Landes oftmals aussprechen konnten, was sich andere nur dachten.
Da hat sie nicht unrecht. Das ist ein Vorteil, den man auch nutzen muss, wenn man die Gelegenheit hat. Es gab in meiner Aktivität auch Momente, in denen ich aus der Haut gefahren bin. Wie mit dem damaligen italienischen Innenminister Salvini, als er die Menschen, die flüchten mussten, mit Sklaven verglichen hat.
Da sagten Sie in seine Richtung: «Merde alors!». Bereuen Sie diesen Ausbruch?
Nein. Europa ist ja auch geschaffen worden, damit wir die Werte der Demokratie verteidigen und nicht die Werte von denen, die an der Macht bleiben wollen.
Der Bundesrat hat am Freitag einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat mit der EU vorgelegt. Sie haben die Schweiz damals kritisiert für den Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen. Haben Sie als ehemaliger Aussenminister eines anderen kleinen Landes auch Verständnis für den Schweizer Weg?
Ich weiss nur eines: Die Schweiz braucht die Europäische Union und die Europäische Union braucht die Schweiz. Ich nehme an, dass in der Schweiz akzeptiert wird, dass wir ein Gericht haben, den Europäischen Gerichtshof. Und wir müssen in der EU einsehen, dass die sozialen Errungenschaften der Schweiz, wie etwa die Löhne, nicht gefährdet werden dürfen.
Ich weiss nur eines: Die Schweiz braucht die Europäische Union und die Europäische Union braucht die Schweiz.
Und wenn es zu einer Abstimmung kommt, hoffe ich, dass alle Kräfte, die eine Annäherung wollen, an die Urne gehen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.