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Ex-KZ-Angestellte vor Gericht Nazi-Aufarbeitung: Antworten zu wohl letztem Prozess Deutschlands

In Deutschland findet derzeit der wohl letzte Prozess zur Aufarbeitung der Nazi-Zeit statt. Vor Gericht ist eine 99-jährige Frau, die zwischen 1943 und 1945 als Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof im Norden Polens gearbeitet hatte. Deutschland-Korrespondentin Simone Fatzer schätzt den Prozess ein.

Simone Fatzer

Deutschland-Korrespondentin

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Simone Fatzer arbeitet seit 1998 für Radio SRF, unter anderem als Moderatorin der Sendung «Echo der Zeit» und als Dossierverantwortliche für Deutschland. Seit September 2021 ist sie Korrespondentin in Berlin.

Was wird der Frau genau vorgeworfen?

Die Angeklagte, damals 18 beziehungsweise 19 Jahre alt, war direkt dem Kommandanten des Lagers unterstellt, hat Schreibarbeiten erledigt. Das Gericht hat sie wegen Beihilfe zum Mord in 10'505 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen verurteilt. Sie habe also nicht selber gemordet, aber willentlich unterstützt, dass Gefangene vergast, gequält, auf sogenannte Todesmärsche geschickt und ermordet wurden.

Warum findet dieser Prozess erst jetzt statt?

Es handelt sich hier um einen Revisionsprozess. Die Angeklagte hat ein erstes Urteil nicht akzeptiert und hofft nun auf Freispruch. Aber auch der zugrundeliegende Prozess fand erst vor kurzem statt. Es dauerte bereits viele Jahre, bis die Ermittlungen dafür abgeschlossen waren. Dass erst in den letzten Jahren wieder mehr solcher Prozesse stattfinden, liegt auch an einer Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und juristischen Bewertung.

Ältere Frau mit Sonnenbrille und Maske sitzt vor einer Plexiglasscheibe.
Legende: Die mittlerweile 99-jährige Frau, die Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof gearbeitet hatte, beim Prozess Ende 2021 vor dem Landgericht Itzehoe. Keystone/Christian Charisius (Archiv)

Direkt nach dem Krieg ging es darum, zu vergessen. Dann kam eine lange Zeit, in der den Angeklagten individuelle Taten zugeordnet werden mussten. Es musste bewiesen werden, dass jemand einen Menschen selber erschossen hat, was unglaublich schwierig ist und zu weniger Prozesse führte. 2011 läutete das Urteil gegen den Wachmann Demjanjuk eine Wende ein. Seine Arbeit und sein Wissen um die Morde reiche für Beihilfe zum Mord, argumentierte das Gericht. Ein Lager galt fortan als Mordsystem, das ohne willige Mithilfe von Mitarbeitenden unmöglich gewesen wäre. Diese neue Bewertung hat neuen Prozessen Schub verliehen.

Was droht der Angeklagten vor Gericht?

Sie muss nicht ins Gefängnis. Das war schon in der ersten Verurteilung klar. Die Frau ist wegen ihres jungen Alters damals zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Es wird auch dem Alter der Täterinnen und Täter Rechnung getragen und gibt oft nur milde Strafen.

Was ist das Ziel des Prozesses?

Es wirkt zwar etwas irritierend, dass gebrechliche Personen noch vor Gericht kommen. Mord und Beihilfe zum Mord verjähren nicht. Man spricht auch von Rechtsfrieden, den es wiederherzustellen gelte, das ist für die Hinterbliebenen der Opfer sehr wichtig. Ein Anwalt von Hinterbliebenen sagte mir einst: Wichtiger als das Strafmass sei für die Opfer, vor einem deutschen Gericht überhaupt über diese Verbrechen sprechen zu können, dass die Sicht der Opfer gehört werde.

Wie geht die juristische Aufarbeitung der Nazi-Zeit nach diesem Prozess weiter?

80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sterben Täterinnen und Täter aus. Wenn es also keine Prozesse mehr geben kann, schliesst sich für Deutschland auch ein Kapitel. Bis zum Schluss war es wichtig, diese Täter nicht davonkommen zu lassen. Inhaltlich und auch für die Opfer ist die Aufarbeitung aber nicht abgeschlossen, auch wenn es nur noch wenige Holocaustüberlebende gibt. Staat und Gesellschaft müssen klarmachen, wie sie diese Gräueltaten bewerten. Das ist wichtig, gerade in Zeiten, wo etwa AfD-Politiker Alexander Gauland beim Holocaust von einem Vogelschiss in der Geschichte spricht.

SRF 4 News, 31.07.2024, 16:38 Uhr ; 

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