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KZ-Wachmann vor Gericht NS-Prozess in Deutschland: Aufarbeitung auf den letzten Drücker

Die Anklage gegen den 101-Jährigen lautet Beihilfe zum Mord in über 3500 Fällen. Es ist einer der letzten NS-Prozesse; die allermeisten Täter sind bereits tot.

Josef S. war Wachmann im KZ Sachsenhausen. Er streitet das ab, aber die Beweislast ist riesig. Gutachter haben Aussagen seiner Familie, Briefe, Dokumente und Fotos akribisch untersucht. Seit letzten Herbst läuft das Verfahren gegen ihn. Der 101-Jährige sitzt im Rollstuhl und hört sich beinahe reglos mit Kopfhörern das Plädoyer des Staatsanwalts an.

Der Fall Josef S.

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Josef S. war SS-Wachmann im KZ Sachsenhausen. Er steht vor einem deutschen Gericht. Dem 101-Jährigen wird vorgeworfen, als Wachmann wissentlich und willentlich an der Ermordung von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. Der Mann soll laut Anklage von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Häftlingen geleistet haben. Dabei geht es unter anderem um den Tod von sowjetischen Kriegsgefangenen und Kranken durch Genickschuss und durch Vergasung.

Die Staatsanwaltschaft hat fünf Jahre Haft gefordert. Der Strafrahmen für die angeklagte Tat liegt zwischen drei und 15 Jahren. Diese Woche werden die Schlussplädoyers gehalten. (dpa)

Rechtsanwalt Thomas Walther vertritt elf Nebenkläger. Seit Jahren sorgt er dafür, dass die betagten Täter noch zur Rechenschaft gezogen werden. «Die Gnade vor dem Herrn gab es für die alten Menschen in den Lagern nie. Und das Schlimmste ist: Die Gnade in den Lagern für die Neugeborenen gab es erst recht nicht», sagt Walther.

Stimme der Opfer

Wichtiger als ein Strafmass sei es, vor einem deutschen Gericht über diese Verbrechen sprechen können, so Thomas Walther zur Sicht der Opfer: «Jetzt habe ich das für mich selbst als Überlebenden und meine ermordeten Angehörigen endlich sagen können, was in der deutschen Justiz jahrzehntelang niemanden mehr interessiert hat.»

Nach den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg gab es lange kaum mehr solche Verfahren. Historiker Christian Molitor hat sich intensiv mit den NS-Verbrechen auseinandergesetzt. «Es ist bis heute unstrittig, dass wir eine völlig fehlgeleitete Aufarbeitung der Naziverbrechen hatten.»

Viele der Täter wurden zu Stützen der Nachkriegsgesellschaft. Doch die Vergangenheit wurde von Tätern und Opfern verdrängt. Das gibt Josef Schuster zu bedenken. Er ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. «Da man nicht den Mut hatte, sich damit auseinanderzusetzen. Man wollte sich auch nicht damit auseinandersetzen. Man hatte Angst, dass man selbst oder die Familie in Misskredit gerät. Nun gibt es kaum mehr Überlebende, aber auch kaum mehr Täter.»

Es gibt auch juristische Gründe. Über Jahre hinweg versuchte man, den Angeklagten individuelle, konkrete Taten in den Lagern zuzuordnen, Erschiessungen etwa. Das war so gut wie unmöglich. Thomas Will leitet die Zentrale Stelle für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er sagt: «Seinerzeit galten die Überprüfungen der Konzentrationslager in strafrechtlicher Hinsicht als abgeschlossen. Der Vorgang hatte sich über Jahrzehnte entwickelt. Der Fall Demjanjuk war schliesslich der Türöffner, dass wir uns mit der Thematik nochmal neu befasst haben.»

Urteil im Fall des KZ-Wachmanns Demjanjuk

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Vor einem deutschen Gericht stehen viele Menschen, darunter auch Journalisten.
Legende: John Demjanjuk wurde am 12. Mai 2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord an 28’060 Menschen zur fünf Jahren Haft verurteilt. imago images

Das Urteil gegen den KZ-Wachmann John Demjanjuk 2011 war die entscheidende Wende. Das Konzentrationslager galt erstmals insgesamt als Tat. Ein Mordsystem, das nicht möglich gewesen wäre, hätten nicht alle dort, auch Wachleute, ihren Dienst willig geleistet. Das Urteil öffnete die Tür für den Tatbestand der Beihilfe zum Mord. Genauso, wie es nun nach all den Jahren auch Ex-Wachmann Josef S. zur Last gelegt wird.

Rechtsanwalt Rajmund Niwinski vertritt ebenfalls Nebenkläger. «Der Umstand, dass man trotz dieser Säumnisse jetzt noch so energisch nachhakt, zeigt, dass der Umgang sehr korrekt ist. Und dass man sich wissend der Kritik aussetzt und diese Verfahren so spät noch führt, ist für mich ein positives Zeichen. Es zeichnet diese Gedenkkultur in Deutschland besonders positiv aus.»

Aufarbeitung weist in die Zukunft

Die Täter zur Rechenschaft ziehen und die Prozesse gegen die letzten Täter dieser grausamen Verbrechen, das sei mit dem Ukrainekrieg aktueller denn je, sagt Rechtsanwalt Thomas Walther: «Wir sprechen über Verbrechen aus den Jahren 1944/45. Gleichzeitig geschehen am gleichen Ort, in Charkiw oder Mariupol, wieder die gleichen Verbrechen. Da drängt es sich absolut auf, dass dies auch ein Menetekel an der Wand für einen Statthalter der Gewalt in Moskau sein könnte.»

Das jahrelange Bemühen von Thomas Walther um die späte juristische Aufarbeitung der NS-Taten weist also auch in die Zukunft.

Echo der Zeit, 24.05.2022, 18 Uhr

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