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Festnahme von Sängerin Gülsen Gitter statt Glitzer: Türkische Sängerin wegen Witz verhaftet

Vor vier Monaten hat die türkische Sängerin Gülsen einen Scherz über religiöse Schulen gemacht. Nun sitzt sie in Untersuchungshaft.

Gülsen ist einer der bekanntesten Popstars der Türkei. Die 46-Jährige ist bekannt für ihre Songs, aber auch für ihre Bühnenoutfits, die häufig sehr knapp sind. Sie ist sehr erfolgreich, verdient jedes Jahr Millionen.

Am Donnerstag wurde Gülsen verhaftet. Der Vorwurf: Volksverhetzung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. «Dabei hat sie weder eine Gewalttat begangen noch dazu aufgerufen», sagt Thomas Seibert, freier Journalist in der Türkei.

Religiöser Witz mit Folgen

Gülsen hat vor vier Monaten auf der Bühne während eines Auftritts mit ihrer Band rum gescherzt. Sie hat über einen der Musiker gesagt: «Der war früher mal auf so einer religiösen Oberschule. Deswegen ist er heute so pervers.»

Sängerin Gülsen performt auf einer Bühne.
Legende: Gülsen ist unter den grossen Stars in der Türkei, füllt grosse Hallen. Keystone/AP Depo Photos/Aydin Türkei

Nun hat die Politik eingegriffen und es wurde entschieden, dass Gülsen ins Gefängnis muss. Dass die AKP, die Partei des türkischen Präsidenten Erdogan, derart empört reagiert, hat wohl auch mit der Vergangenheit Erdogans zu tun.

«Diese religiösen Oberschulen, Imam-Hatip-Schulen genannt, sind ein Lieblingsprojekt der Regierung Erdogan. Erdogan selbst war auf so einer Schule. Vielleicht ist er deswegen beleidigt», sagt Seibert. Die Regierung Erdogan pusht diese Schulen seit Jahren. Mittlerweile seien ungefähr 700'000 Schüler auf diesen Schulen.

Reaktionen auf Social Media

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Die Verhaftung Gülsens löst auf Social Media viele Reaktionen aus. «Social Media explodiert regelrecht», sagt Can Külahcigil, SRF-Redaktor. «Besonders laut ist die regierungskritische Seite. Auch Personen, die der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan nahestehen, äussern sich – aber die sind mir deutlich weniger aufgefallen.»

Dokumentarfilmemacher Ümit Kivanc twittert beispielsweise: «Gülsen wurde verhaftet, weil sie mit ihrem Verhalten quasi sagt: ‹Ich habe keine Angst, es ist mir egal.›» Er schreibt weiter: «Selbst wenn Gülsen die Leute von diesen religiösen Schulen nicht erwähnt hätte, hätte man sie verhaftet und ein Verfahren eröffnet.»

Auch Juristin Sera Kadigil reagiert. Sie ist Abgeordnete der Arbeiterinnen- und Arbeiter-Partei der Türkei. Sie schreibt in einem Post auf Instagram: «Das ist eine rechtswidrige Entscheidung.»

Stimmen, die die Festnahme von Gülsen unterstützen, sind laut Külahcigil klar in der Minderheit. «Ich habe einige verständnisvolle Tweets gefunden – die meisten davon mit anonymen Accounts. Die Regierung habe richtig gehandelt, schreiben viele von ihnen.»

Laut dem freien Journalisten Seibert geht es jedoch um mehr als einen Witz von einer Popsängerin über religiöse Schulen. Wieso also hat die türkische Regierung im Fall Gülsen so hart durchgegriffen? «Erdogan will die Spaltung des Landes in einen säkularen und in einen eher islamisch-frommen Teil weiter zementieren. Um damit vor den Wahlen seine eigene Anhängerschaft um sich zu scharen.»

Wahlen in der Türkei

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In der Türkei finden in einigen Monaten die Präsidentschaftswahl und die Parlamentswahl statt. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits angekündigt, dass er wieder antreten wolle. Er ist seit fast 20 Jahren an der Macht. Wann genau gewählt wird, ist noch nicht klar. Spätestens im Juni 2023 müssen die Wahlen aber stattfinden. Möglich ist, dass es auch schon früher soweit ist.

In den vergangenen Jahren konnte sich Erdogan wegen seiner wirtschaftlichen Erfolge auf seine Wählenden verlassen. Nun sieht es mit der türkischen Wirtschaft düster aus. «Erdogan braucht also ein Thema, mit dem er die Leute an sich binden kann». Gülsen.

Porträt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan
Legende: Erdogan wolle seinen potenziellen Wählern signalisieren, dass er gegen einen westlichen Lebensstil vorgeht. Er hat mit seinem Regierungsantritt vor 20 Jahren den islamisch-frommen Teil an die Macht gebracht. Keystone/Vahid Salemi

Die Verhaftung von Gülsen hat zwar zu Kritik an der Regierung geführt. «Trotzdem konnte die Regierung in den vergangenen Monaten ihre Lage in den Umfragen stabilisieren. Obwohl die Wirtschaft immer weiter den Bach heruntergeht», erklärt Seibert. «Erdogan versucht, konservative Leute anzusprechen.»

Kein einheitliches Mass

Das Video von Gülsen, indem sie den Witz macht, wurde erst vier Monate später zum Problem. «Die Erklärungen für solche Fälle gleichen sich immer», erklärt Seibert. Entweder würden sich Denunzianten bei der Regierung melden. Oder die Behörden ziehen angebliche Beschwerden aus der Bevölkerung heran.

«Die Behörden sind immer gewillter, auf Beschwerden aus ihren eigenen Kreisen zu reagieren. Offiziell heisst es, die Justiz sei unabhängig, sie ermittle eben in Fällen von angeblicher Volksverhetzung. Leute, die eher auf der Regierungsseite stehen, können sich jedoch allerhand herausnehmen, ohne dass die Justiz einschreitet.»

Bis drei Jahre Haft

Momentan sitzt Gülsen in einem Frauengefängnis in Istanbul. Dort wartet sie auf den Termin ihres Prozessbeginns. Sie hat eine Woche Zeit, um gegen den Haftbefehl Beschwerde einzulegen. «Wenn ich das richtig sehe, hat diese Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg. Wenn der öffentliche Druck weiter zunimmt, hätte sie vielleicht eine Chance, wieder herauszukommen.» Ansonsten geht die Sängerin Gülsen einem Prozess entgegen, bei dem ihr bis zu drei Jahre Haft drohen.

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News Plus, 26.08.2022, 16:00 Uhr ; 

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