Mehr als ein Dutzend Aussagen sind es pro Sitzungstag. Manche Opfer und Angehörige reden bis zu einer Stunde. Jede Aussage öffnet den Blick auf Menschen, deren Leben mit dem Anschlag aus der Bahn geworfen wurde.
Das berührt mich enorm.
In Nizza lösen diese Aussagen emotionale Reaktionen aus. Zum Beispiel bei Yvonne, die den live übertragenen Prozess seit Beginn aufmerksam verfolgt. «Das berührt mich enorm», sagt die Rentnerin.
Sie habe sich auch schon überlegt, ob sie die Verhandlungen noch weiter verfolgen wolle, weil sie die Verzweiflung der Opfer kaum aushalten, aber ihnen auch nicht helfen könne. Doch gleichzeitig habe sie das Gefühl, dass sie trotzdem zuhören müsse. Weil Nizza ihre Stadt sei.
Plötzlich pure Panik
Das Gericht stellt den Opfern und Angehörigen einige Fragen zur Person. Dann haben sie das freie Wort. Die meisten berichten kurz, wie sie sich auf das Feuerwerk gefreut hatten. Und beschreiben dann ausführlich die Panik, die der weisse Lastwagen auslöste.
Eine junge Frau schildert, wie sie während ihrer Flucht gesehen habe, wie hinter ihr ein guter Freund vom Lastwagen zermalmt wurde. Andere schildern den Geruch; ein Gemisch von Rauch und Blut. Seit dem 14. Juli riechen sie ihn immer wieder.
Dieser 14. Juli war für alle ein Wendepunkt im Leben. Musiker, die seither nicht mehr öffentlich spielen können. Töchter schildern ihren Vater und wie sehr sie ihn vermissen; ihre Mutter sagt, wie schwierig es für sie sei, den Tod ihres Mannes zu akzeptieren. Andere reden von Schuldgefühlen gegenüber Freundinnen und Freunden, die sie zum Feuerwerk begleitet hatten und die mit ihren Kindern durch den Amokfahrer getötet wurden.
Die Promenade erinnert an das Trauma
Die meisten sprechen ruhig, machen immer wieder Pausen, schluchzen, wischen sich mit dem Taschentuch Tränen ab. Die Richterinnen und Richter hören zu, fragen nach und bedanken sich.
Der Anschlag vom 14. Juli sei für die Bevölkerung von Nizza wie ein kollektives Trauma, sagt Yvonne. Das merke sie in ganz alltäglichen Situationen. Zum Beispiel, wenn sie auf der Strasse einen weissen Lastwagen sehe, weil ihr dann sofort der Anschlag auf der Promenade des Anglais einfalle.
Was Leiden ist, sei Yvonne erst während des Prozesses bewusst worden. Auf Nizzas bekannter Uferpromenade sei sie früher oft spaziert. Seit dem Anschlag meide sie den Ort. Das gehe in Nizza vielen Menschen so, sagt Silvia Legrand, die den Prozess für eine Stiftung verfolgt und die Opfer unterstützt.
Feiern war früher
Eine Frau habe vor Gericht gesagt, auch die Promenade sei ein Opfer. Der Ort sei früher das Synonym für Feste und Freizeit gewesen. Heute nicht mehr. Eigentlich fühlten sich ganz Nizza und seine Bevölkerung als Opfer, seien traurig und fühlten sich mitverantwortlich. Der Anschlag bedeute einen Markstein in der Geschichte.
Im Urteil, das am Ende des Prozesses Mitte Dezember fallen soll, wird es juristisch um die Mitschuld der acht Angeklagten gehen. Der eigentliche Täter wurde beim Anschlag von der Polizei erschossen.
Die Aussagen der Opfer und ihrer Angehörigen zeigen, wie der Anschlag ihr Leben verändert hat. Dabei sprechen sie nicht nur für sich selber. Sie geben auch der Stadt und ihrer Bevölkerung eine Stimme.