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Bulgarien: Der «goldene Tümpel» an der EU-Aussengrenze
Aus International vom 27.05.2023. Bild: Reuters
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Früchte für Europa Pestizide: Warum die bulgarischen Grenzkontrollen fragwürdig sind

Die Kontrollen am türkisch-bulgarischen Grenzübergang Kapitan Andreewo sind voller Ungereimtheiten – mit Folgen auch für die Schweiz.

Die türkischen Lastwagenfahrer sind gereizt, weil sie so lange warten müssen an der türkisch-bulgarischen Grenze. Im Gesicht die Schatten durchgefahrener Nächte, im Gefährt Früchte und Gemüse – und jetzt mindestens drei Tage lang herumstehen in einem Meer aus Schwerverkehr auf der bulgarischen Seite des Grenzübergangs Kapitan Andreewo. Er ist der grösste Grenzübergang Europas, der drittgrösste der Welt. Fürs Essen, Duschen und Schlafen müssen die Lastwagenfahrer selbst bezahlen, während sie warten. So viel, dass kaum Geld übrig bleibt für sie und ihre Familien in der Türkei. «Nur 200 Franken bleiben übrig», sagt einer.

Kapitan Andreewo – Grenzübergang der Superlative

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Kapitan Andreewo ist der grösste Grenzübergang Europas und der drittgrösste der Welt. Er trennt Bulgarien und die Türkei und damit auch die Europäische Union und die Türkei. Benannt ist er nach einem bulgarischen Widerstandskämpfer gegen die Türken. Dieses Jahr werden am Grenzübergang eine Million Fahrzeuge erwartet, das ist ein Rekord. 300’000 davon sind Lastwagen. Der Verkehr nimmt auch zu, weil ein Teil der Exporte aus der Ukraine im Moment über diese Grenze umgeleitet wird. Kapitan Andreewo ist ebenfalls Rekordhalter bei Fälschungen: Es ist der Grenzübergang weltweit, an dem am zweitmeisten Fälschungen gefunden werden. Darunter sind Kleider, Schuhe, Zigaretten oder Waschmittel. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres haben Zöllner und Zöllnerinnen 350’000 gefälschte Artikel gefunden.

Die Fahrer warten, weil Bulgarien ihre Früchte und ihr Gemüse kontrollieren muss. 80'000 Lastwagen werden dieses Jahr Peperoni, Zitronen, Birnen, Mandarinen, Feigen und mehr über diese Grenze bringen, aus der Türkei, aus Asien. Fast alles landet in westeuropäischen Läden. Bulgarien wacht darüber, dass im Rest Europas – auch in der Schweiz – möglichst kein Essen mit zu vielen Pestiziden, mit anderen Giften ankommt. Isst man zu viele oder unerlaubte Pestizide über eine längere Zeit, kann man krank werden: Allergien, Vergiftungen, Erbgutschädigungen, Krebs.

Test drei Autostunden entfernt

Nur sucht Bulgarien die Pestizide nicht an der Grenze, sondern in der Hauptstadt Sofia, drei Autostunden entfernt. Im staatlichen Labor am Stadtrand, hier zerschneiden Frauen mit Gummihandschuhen Zitronen. Chefin ist Elka Demeltscheva. Sie sagt: «Seit einem Jahr sind wir zuständig und arbeiten durchgehend.» 50 Proben pro Tag untersuchen die Prüferinnen im Moment – mehr geht nicht. Egal, ob 80 oder 400 Lastwagen an der Grenze stehen. Eine Chemikerin schaut auf ein Blatt Papier, dicht gedrängte Zahlen. Sie sieht zu viel Pestizid in einer Probe. Der Lastwagen, aus dem die Zitrone kommt, steht an der Grenze. Sein Fahrer muss nun zurückfahren in die Türkei oder seine Früchte in Bulgarien vernichten – eskortiert von der Grenzpolizei.

Die Chefin des Labors in Sofia zeigt ein Früchtemus, das untersucht werden soll.
Legende: Elka Demeltscheva untersucht mit ihrem Team in Sofia Früchte und Gemüse auf Pestizide. SRF/Sarah Nowotny

Früher, sagen die Fahrer an der Grenze, dauerte es nur vier Stunden, bis klar war, ob sie rein dürfen in die EU. Noch vor einem Jahr hat man Früchte und Gemüse nämlich direkt an der Grenze untersucht. «Das alte System war viel besser», finden die Fahrer. Für den bulgarischen Staat aber sind die Tests in Sofia der Versuch, sich die Grenze zurückzuholen. Denn jahrelang hatte er die Kontrollen dort privaten Unterweltfiguren überlassen.

«Nichts passiert zufällig»

Wie so etwas möglich ist, erzählt Angel Mawrowski in einem Café in Sofia. Bis im Sommer 2022 war er Vizechef der bulgarischen Agentur für Nahrungssicherheit – zurückhaltend wirkt er, das passt gar nicht zu dem, was er erreicht hat. «Es begann 2011», sagt er. Damals entliess die bulgarische Regierung staatliche Lebensmittelkontrolleure, erklärte, sie habe kein Geld und keine Leute für ein Labor an der Grenze. Danach vermietete die Regierung die Labor-Räume an eine private Firma, übergab dieser alle Kontrollen. Sie privatisierte also Teile der wichtigsten Grenze der EU.

«In Bulgarien passiert nichts zufällig», sagt Angel Mawrowski. Er kramt den Mietvertrag von damals hervor – unterschrieben von einer bekannten Figur aus der bulgarischen Unterwelt. Die private Firma, die neu Früchte und Gemüse an der Grenze auf Pestizide untersuchen sollte, war gleich für alles zuständig: Papierkram, Lastwagen entladen, Proben untersuchen. So entstehen Interessenskonflikte. Die Firma verlangte viel Geld für ihren Service – immer in bar, kaum zu entwirren, wer wofür wieviel bezahlte. Tonaufnahmen erreichten die Medien. Man hört darin, wie jemand verspricht, einen bestimmten Lastwagen gegen Geld nicht zu kontrollieren. 1000 Dollar habe das gekostet für eine Fracht Gemüse, das wisse er aus sicherer Quelle. Kameras hingen zwar in den Laborräumen, sie waren aber nicht angeschlossen. Die Mächtigen im Staat hätten weggeschaut oder mitgemacht.

Einer will die Korruption beseitigen

«Dem Staat sind Milliarden entgangen», sagt Angel Mawrowski. Milliarden an Gebühren für die Kontrolle von Früchten und Gemüse. Und ganz Europa hat wohl jahrelang schlecht kontrollierte Früchte und nicht untersuchtes Gemüse gegessen. In der Schweiz gibt es zwar an der Grenze auch Kontrollen auf Pestizide, diese sind aber risikobasiert und stichprobenartig. Das heisst, man kann nicht davon ausgehen, dass Früchte und Gemüse, die über Bulgarien nach Europa kamen, systematisch kontrolliert worden sind.

Lebensmittelkontrollen an der EU-Aussengrenze: Sache Bulgariens

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Bulgarien prüft an der Aussengrenze der Europäischen Union, ob Lebensmittel die Vorgaben erfüllen und damit in der EU verkauft werden dürfen. Bei Früchten und Gemüse geht es dabei zuerst um Pflanzenkrankheiten, dann um Pestizide und Mykotoxine. Mykotoxine sind Gifte, die Pilze produzieren können – sie tun dies vor allem, wenn Trockenfrüchte schlecht gelagert werden. Es wird längst nicht jede Fracht untersucht; für jede Gemüse- und Früchtesorte gibt es Quoten, die die EU festlegt. Im Moment erfüllt Bulgarien diese Quoten allerdings nicht. Die Prüfer an der Grenze prüfen weniger Lastwagen als vorgesehen. Die EU kritisiert diesen Umstand und viele andere Aspekte der Lebensmittelkontrollen an der EU-Aussengrenze. Eine Frage ist auch, ob das System korruptionsanfällig ist. Die Prüfer tragen auf einem Blatt Papier ein, welche Lastwagen kontrolliert werden sollen. Einige Fachleute sind der Meinung, dieses System könne so manipuliert werden, dass ein Lastwagen gegen Bezahlung womöglich nicht kontrolliert werde.

Doch dann gewann in Bulgarien ein Mann namens Kiril Petkov die Wahlen, mit einem ernst gemeinten Versprechen: keine Korruption. Es war das Jahr 2022. Angel Mawrowski und andere von Korruption Angewiderte übernahmen jetzt die Agentur für Nahrungssicherheit, mit dem Plan, die Kontrolle von Früchten und Gemüse wieder zu verstaatlichen. Die Leute des privaten Labors wollten ihre eierlegende Wollmilchsau an der Grenze allerdings nicht aufgeben. Wie Aufnahmen zeigen, blockierten sie eine Zeitlang am Grenzübergang Kapitan Andreewo den Zugang für Staatsangestellte, kilometerweit stauten sich die Lastwagen.

Morddrohungen gegen Beamte

Irgendwann mussten die Besitzer des Labors die Blockade aufgeben, also probierten sie andere Rezepte aus: Angel Mawrowskis Chef bekam Geld geboten, wenn er nur die Grenze in Ruhe liesse. Auch davon gibt es eine – versteckte – Aufnahme. Mawrowskis Chef sagte Nein. Übernehmen konnte der Staat das private Labor an der Grenze allerdings nicht, der Mietvertrag mit der Firma gilt heute noch. Stattdessen liess er es schliessen. Sein Chef und er, sagt Angel Mawrowski, seien deswegen bedroht worden. «Ich bekam Briefe: Man werde mich zerquetschen zwischen zwei Lastwagen, mein Auto von der Strasse abdrängen».

Kiril Petkov.
Legende: Ministerpräsident Kiril Petkov hatte der Korruption in Bulgarien den Kampf angesagt. Doch seine Regierung scheiterte bereits nach einem halben Jahr im Juni 2022. REUTERS/Stoyan Nenov

Der Staat konnte aber seine Vorstellung durchdrücken: Seit Früchte und Gemüse in Sofia untersucht werden, finden die Chemikerinnen deutlich mehr Pestizide als zu Zeiten des privaten Labors, wie Zahlen zeigen. Und so könnte diese Geschichte hier aufhören mit dem Satz: Peperoni aus der Türkei, Datteln aus Indien sind heute sauberer als früher, Europa isst gesünder. Doch die Geschichte geht weiter. Denn die Regierung des Mannes, der ein Bulgarien ohne Korruption wollte, wurde nach sechs Monaten vom Parlament abgewählt. Und heute, sagt Angel Mawrowski, sei die «Mafia» wieder zurück im Staat und an der Grenze. Er ist entlassen worden bei der Agentur für Nahrungssicherheit – genau wie sein Chef.

Eine Firma aus dem Nichts

Wassil Dimmitrov ist Geschäftsführer des privaten Labors, dem vorgeworfen wird, Früchte und Gemüse gegen Geld nicht kontrolliert zu haben. Eine Schrankwand von einem Mann – trotzdem will er uns nur flankiert von Anwalt und Anwältin treffen. Er ist überzeugt, dass seine Leute bald wieder an der Grenze arbeiten dürfen. Man könne ihm doch nicht einfach das Geschäft kaputtmachen. «Meine Mitarbeiter waren nicht bestechlich, unmöglich», sagt er. Seine Firma war aus dem Nichts aufgetaucht, bevor sie den Zuschlag für die Kontrollen an der Grenze bekam; niemand weiss, woher er das Geld nahm, um sie aufzubauen.

Grenzübergang Kapitan Andreewo.
Legende: Das Tor zur EU: Über 80'000 LKW werden in diesem Jahr über Kapitan Andreewo Früchte und Gemüse nach Europa bringen. Imago/Hristo Rusev

Fragt man ihn, warum alle Zahlungen an der Grenze in bar abgewickelt wurden, sagt er, weil die schlechte Internetverbindung Kartenzahlungen verhindere. Bloss: Die Verbindung ist bestens an der Grenze, heute wird dort nur noch mit Karte bezahlt. Fragt man, warum das staatliche Labor mehr Pestizide finde als sein privates, sagt er, vielleicht würden inzwischen einfach weniger Pestizide benutzt. Die Anwältin des Geschäftsführers des privaten Labors zeigt auf einen Aktenberg. «Das sind alles unsere.» Dutzende Gerichtsprozesse. Mindestens einen hat der Staat schon verloren, denn der zuständige Beamte hatte eine Gerichtsgebühr von 35 Franken nicht rechtzeitig bezahlt.

Ungereimtheiten bis heute

Dieses Chaos an der bulgarisch-türkischen Grenze geht ganz Europa etwas an. Also hat die EU-Kommission letzten Sommer Prüfer nach Bulgarien geschickt. Ihre Zusammenfassung flösst kein Vertrauen ein: «Systematische Mängel bei den offiziellen Kontrollen sind den Behörden schon länger bekannt, wurden aber nie wirkungsvoll angegangen.» Iwan Schikow, der neue Chef der Agentur für Nahrungssicherheit, beschwichtigt. Seine Agentur, sagt er, gebe sich grosse Mühe, das zu tun, was die EU erwarte. «Wir öffnen jeden Lastwagen, um zu überprüfen, was drin ist.»

An der bulgarisch-türkischen Grenze steht eine Baracke, nur Schwalbennester unter dem Dach schmücken den kahlen Beton. Hier ist ein wichtiger Ort für die Sicherheit Europas, denn hier halten die Lastwagen mit Früchten und Gemüse, deren Fracht überprüft werden soll. Welche, sagen die Angestellten, das wählten sie zufällig aus. Ein Lastwagen mit Mandarinen fährt vor, ein paar Früchte landen in Plastiktüten, werden später in Sofia auf Pestizide untersucht. Einer, der hier arbeitet, sagt, man öffne nicht jeden Lastwagen, um zu sehen, was drin sei – die EU erlaube das. Damit widerspricht er seinem Chef, dem Chef der Agentur für Nahrungssicherheit. In der entsprechenden EU-Vorgabe steht, reduzierte Kontrollen seien nur auf Antrag möglich. Einen Antrag hat die Agentur nach eigenen Angaben aber nicht eingereicht.

Solche Ungereimtheiten lassen vermuten, dass die Kontrolle von Früchten und Gemüse an der türkisch-bulgarischen Grenze immer noch nicht so funktioniert, wie sie sollte. Ein Problem für ganz Europa, auch für die Schweiz.

International, 27.5.23, 9:08 Uhr

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