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Fünfte Republik am Ende? «Macron ist gerade etwas desorientiert»

Nach nicht einmal einem Monat im Amt ist Frankreichs Premier Sébastien Lecornu wieder zurückgetreten. Er ist der vierte Premier innert eines Jahres, der das Handtuch wirft. Für Historiker Joseph de Weck ist die jetzige Situation Ausdruck für eine tiefere Systemkrise in Frankreich. Oder gar das Ende der Fünften Republik?

Joseph de Weck

Historiker und Politikwissenschaftler

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Joseph de Weck (*1985) ist ein Schweizer Politologe und Historiker. Er arbeitet als Europa-Direktor bei der geopolitischen Beratungsfirma Greenmantle und ist Fellow am Institut Montaigne in Paris. Bekannt wurde er durch Analysen zur europäischen Politik und sein Buch «Emmanuel Macron: Der revolutionäre Präsident» (2021). Regelmässig publiziert er Essays in internationalen Medien wie The Guardian und der FAZ.

SRF: Die Fünfte Republik sollte Stabilität bringen. Doch diese ist nicht mehr gegeben. Warum?

Joseph de Weck: Die Fünfte Republik wurde von Charles de Gaulle gegründet, weil man einen klaren Chef mit einer klaren Mehrheit im Parlament brauchte. Dies, um Frankreich dazu zu bringen, sich aus der Kolonie Algerien zurückzuziehen. Diesen Kraftakt hätte die normale parlamentarische Republik nicht geschafft. Das Problem heute ist, dass Frankreich, wie alle anderen Länder Europas, ein immer fragmentierteres politisches Spektrum hat. Es gibt immer mehr Parteien und immer weniger Volksparteien. Ein System, das darauf ausgerichtet ist, alle Macht einer Person und Partei zu geben, funktioniert nur, wenn die Partei grosse Teile der Bevölkerung abdeckt. Das ist das strukturelle Problem, warum die Fünfte Republik nicht mehr funktioniert.

Ist die politische Krise nur systembedingt oder hat sie auch mit Präsident Macron zu tun?

Es ist beides. Einerseits kennen die Franzosen die politische Kultur des Kompromisses nicht. Das Wahlrecht ist so ausgelegt, dass es die Politiker dazu motiviert, auf Konfrontation zu gehen.

Macron hat immer noch nicht kapiert, dass er nicht mehr der Allmächtige ist, sondern auf die anderen Parteien angewiesen ist.

Andererseits ist es auch das Problem von Macron, der seit bald acht Jahren an der Macht ist. Er ist nicht bereit, einen Politikwechsel zu akzeptieren. Er will sein politisches Erbe verwalten und schützen. Aber alle anderen Parteien sagen ‹Nein, du musst grundlegende Reformen rückgängig machen›. Zum Beispiel die Rentenreform, die er durchgeboxt hat.

Gebäude mit Säulen. Es steht Assemble Nationale drauf. Auf dem Dach weht eine französische Fahne.
Legende: Wie in anderen Ländern Europas ist die Parteien-Landschaft in Frankreich fragmentiert. In der Assemblée Nationale in Paris hat keine Partei die absolute Mehrheit. REUTERS/Sarah Meyssonnier

Hat es auch mit seiner Persönlichkeit zu tun?

Macron hat immer noch nicht kapiert, dass er nicht mehr der Allmächtige ist, sondern auf die anderen Parteien angewiesen ist.

Welche konkreten institutionellen Reformen wären nötig, damit Frankreich wieder handlungsfähig wird?

Frankreich braucht ein Wahlsystem, wie es fast alle europäischen Länder haben – also eines, das dafür sorgt, dass die verschiedenen Parteien gemäss ihrer Wählerstärke abdeckt werden im Parlament. Ein proportionales Wahlrecht, wie man es auch in der Schweiz kennt.

Ich glaube, dass Macron gerade etwas orientierungslos ist.

Erst in so einem politischen System ist es möglich, dass die Parteien anfangen, Kompromisse miteinander zu schliessen. Im heutigen System denkt jede Partei ‹ich mache heute den Kompromiss nicht, damit ich morgen vielleicht die ganze Macht für mich allein habe›. Das ist das, was alles blockiert.

Ist es denkbar, dass Frankreich in absehbarer Zeit zu so einem System übergeht oder zu einer Sechsten Republik?

Ich glaube schon. Wir sind jetzt in der Mitte eines Prozesses, der schon seit zwei Jahren andauert und vielleicht noch mal zwei, drei Jahre dauert. Man sieht, dass das System nicht mehr funktioniert. Dass eine Neuwahl, wie sie jetzt möglich ist, auch kein neues Resultat bringen wird. Aber es wird noch eine Zeit lang turbulent in Frankreich bleiben.

Was wird nun passieren?

Ich glaube, dass Macron momentan auch überrascht ist, wie schnell das gegangen ist, und dass er gerade etwas orientierungslos ist. In den nächsten Wochen werden wir wohl die Ankündigung von parlamentarischen Neuwahlen haben. Das ist unumgänglich. Und dann wird sehr wahrscheinlich wieder ein Parlament ohne klare Mehrheit gewählt. Möglicherweise wiederholt sich das noch ein paar Mal.

Das Gespräch führte Detlev Munz.

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10 vor 10, 6.10.2025, 21:50 Uhr ; 

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