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Gaslieferungen aus Russland Nord Stream 1: Deutschland im Würgegriff Putins

Das Geschäftsmodell schien bestechend: Mit billigem russischem Gas produzieren – und die fertigen Produkte dann mit fettem Wertschöpfungs-Plus nach China verkaufen. So hat es jahrelang funktioniert und alle waren glücklich: die Politik, die Wirtschaft, die Arbeitnehmenden. Win-win-win.

Jetzt wackelt das deutsche Wohlstandmodell – und eine Mail am Nachmittag entscheidet über Wohl oder Wehe. Nachmittags nämlich wird die Bundesnetzagentur darüber vorinformiert, wie viel Gas am Folgetag durch die Pipeline Nord Stream 1 fliessen wird. Gestern die Meldung: Morgen werden es etwa 40 Prozent sein.

Doch was steht heute in der Mail? Was kommt morgen an? Mehr? Weniger? Nichts?

Russlands Präsident Putin hat Deutschland in der Hand. Ab heute bis im nächsten Frühling, wenn die Heizperiode vorbei ist. Jeden Nachmittag hofft Deutschland auf gute Nachrichten im Posteingang der Bundesnetzagentur – deren Chef vertwittert die Liefer-Ankündigungen jetzt auch.

Die Suche nach anderen Quellen

Gleichzeitig sucht man fieberhaft nach anderen Energiequellen. Allen ist klar: Die Klimaziele im Koalitionsvertrag sind Makulatur. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck muss jetzt Kohlekraftwerke länger laufen lassen. Atomkraftwerke vielleicht auch. Er muss Länder wie Katar um Gas anbetteln.

Und all das wird vielleicht doch nicht reichen. Bei der Kohle zum Beispiel klemmt es überall: Eigentlich war der Ausstieg beschlossene Sache, viele Kraftwerke sind schon fast abgebaut. Die Bahn hat zu wenig Kapazitäten, um die Kohle in die Kraftwerke zu bringen.

Derweil ruft die Wirtschaft um Hilfe: Ohne Gas sind die Hochöfen der Stahlindustrie nicht zu heizen, die Glaswerke bringen mit Strom die nötigen hohen Temperaturen auch nicht hin. Die Chemie braucht den russischen Stoff auch dringend.

Der Bundeskanzler schaut der Zitterpartie derzeit aus den Ferien zu. Weit weg ist er nicht, nur im Allgäu, in einem Chalet, mit der Gattin, zu 550 Euro Miete pro Tag. Seit Jahrzehnten wieder ein Kanzler, der in Deutschland Ferien macht. Vielleicht auch darum, weil er schnell wieder in Berlin sein müsste, wenn es in den nächsten Wochen, in der traditionellen Berliner Polit-Pause, harte Entscheidungen zu treffen gilt.

Haushalte zuerst – das Dogma wackelt

Alles hängt davon ab, was in der Nachricht aus Russland steht. «Nominierungen» lautet der Fachbegriff in der Betreffzeile – wie viel wird geliefert? Vielleicht morgen, vielleicht in fünf Wochen, vielleicht anfangs Dezember könnte da stehen: Null. Deutschland ist erpressbar, jeden Tag. Und spaltbar.

Die Regierung wird eine wichtige, vielleicht die wichtigste Entscheidung treffen müssen: Wer bekommt das Gas, das in den Speichern noch übrig ist? Bis jetzt war klar: Die Privathaushalte haben Priorität. Doch dieses Dogma wackelt. Was nützt es den Menschen, wenn sie zu Hause im warmen Wohnzimmer sitzen, aber keine Arbeit mehr haben, weil ihre Firma wegen Gasmangels nicht produzieren kann?

Also doch zuerst die Wirtschaft – und öffentliche Wärmehallen für jene, die zu Hause erbärmlich frieren?

Fragen mit gefährlichstem sozialen Zündstoff. Das Feuerzeug dazu hat Putin in der Hand – jeden Tag. Den Funken schickt er an die Bundesnetzagentur. Vielleicht morgen, vielleicht zu Weihnachten, vielleicht nie. So gehen Machtspiele.

Stefan Reinhart

Leiter Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

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Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

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SRF 4 News, 21.07, 2022, 07:00 Uhr

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