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Hagia Sophia wird Moschee «Erdogan verschafft sich eine politische Bühne»

Mit dem Freitagsgebet ist die Hagia Sophia in Istanbul offiziell als Moschee wiedereröffnet worden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und etliche seiner Minister nahmen an der Zeremonie teil.

Was Erdogan mit der Umwandlung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee bezweckt, erläutert Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.

Reinhard Schulze

Islamwissenschaftler

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Reinhard Schulze studierte von 1974 bis 1981 Orientalistik und Islamwissenschaft, Romanistik und Linguistik an der Universität Bonn. Von 1987 bis 1992 wirkte er als Professor für Orientalische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum, zwischen 1992 und 1995 als Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Bamberg. Ab 1995 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Schulz’ wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Erforschung des sozialen Wandels im Kontext der islamischen Welt.

SRF News: Die Hagia Sophia ist von einem Museum zu einer Moschee umgewandelt worden. Welche religiösen Konsequenzen wird dieser Schritt in der Türkei haben?

Reinhard Schulze: Keine grossen. In der Türkei herrscht ein relativ starker Konsens. Selbst säkulare Kräfte haben sich hinter Erdogans Entscheidung gestellt. Insofern dürfte es intern relativ wenig Spannungen geben. Grössere Spannungen sind mit den christlichen Gemeinden ausserhalb der Türkei – etwa in Griechenland oder in Russland – zu erwarten.

Es gibt aber auch christliche Minderheiten in der Türkei. Fühlen sich die jetzt nicht vor den Kopf gestossen?

Ich glaube auch die christlichen Minderheiten in der Türkei verstehen im Grunde den politischen Prozess, der sich hinter dieser Umwandlung verbirgt. Sie wissen, dass Erdogan sich hier eine politische Bühne verschaffen möchte. Sie werden das kaum stellvertretend für die gesamte Türkei und ihre Bevölkerung sehen. Das sieht man auch an den Reaktionen, etwa der orthodoxen Kirche in Istanbul selbst, die doch etwas zurückhaltend reagiert hat, und gar nicht so offensiv Kritik übt, wie die Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Athen oder Moskau. Da ist die Kritik doch sehr viel heftiger.

Zudem sollte man bedenken, dass die christlichen Gemeinden in der Türkei zahlenmässig sehr klein sind. Es sind etwa 100'000 Menschen, die sich einer christlichen Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen. Die klassische Orthodoxie, die eigentlich bis ins 15. Jahrhundert die Hausherrin der Hagia Sophia war, zählt heute vielleicht noch etwa 2000 bis 3000 Menschen.

Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist also kein religiöser, sondern ein politischer Akt?

Erdogan verschafft sich damit in erster Linie eine politische Bühne. Er zögerte ja lange mit der Unterstützung dieses Prozesses, der von anderen Gruppen angeregt worden war. Letztendlich hat er sich im vergangenen Jahr entschieden, diesen Prozess zu unterstützen und sich sogar an die Spitze dieses Prozesses zu setzen.

Erdogan hat gemerkt, dass eine solche Aktion im Rahmen der derzeitigen politischen Grosswetterlage im Nahen Osten sehr nützlich ist.

Er hat gemerkt, dass eine solche Aktion im Rahmen der derzeitigen politischen Grosswetterlage im Nahen Osten sehr nützlich ist. Weil er damit zeigen kann, dass die Türkei die Führerin der islamischen Welt, zumindest im Nahen Osten, sein kann.

Erdogans Schritt hat in grossen Teilen der arabischen Welt – in Ägypten, Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten – grossen Protest ausgelöst. Hätte Erdogan das nicht ahnen können?

Ich denke, er ist das Risiko bewusst eingegangen. Die Türkei befindet sich ja schon seit mehreren Jahren in einer Frontstellung gegen grosse Teile der arabischen Welt. Etwa in Syrien oder in Libyen sind Stellvertreterkriege im Gang, wo zwischen der Türkei und bestimmten arabischen Staaten eine Front besteht. Erdogan glaubte sicherlich, mit seiner Religionspolitik mehr Verbündete auf der arabischen Seite zu gewinnen.

Er hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass die Ablehnung in der arabischen Welt so stark ist, dass heute im Grunde kaum jemand Beifall klatscht.

Das Gespräch führten Biljana Gogic und Carlos Müller.

Tagesschau, 24.7.2020, 18 Uhr ; 

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