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Hoffnungslosigkeit in Gaza Dem Küstenstreifen droht der Zusammenbruch

Im Gazastreifen nimmt der Frust zu. Beobachter fürchten deshalb einen neuen Gewaltausbruch.

Geduldig warten einige Männer und Frauen im staubigen Hof auf ihre Essensrationen. Kartonschachteln und schwere Säcke gehen über die improvisierte Theke bei der Lebensmittelausgabe. Die Blicke der Wartenden sind leer. Viermal im Jahr erhalten sie ein grosses Paket, das ihren Kalorienbedarf für drei Monate decken soll.

Nahrungsmittelhilfe für 1 Million Menschen

Rund eine Million Menschen versorgt das UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNRWA im Gazastreifen. Und es werden immer mehr. Denn einerseits wächst die Bevölkerung, anderseits verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation laufend.

Frauen und Männer bei der Lebensmittelverteilung in Gaza
Legende: Die grossen Pakete mit Lebensmitteln müssen den Kalorienbedarf von drei Monaten decken. SRF

Sie sei unendlich dankbar für die Lebensmittelhilfe, sagt Emnidal Abu Sultan, obwohl diese kaum ausreiche. Sie erhält vor allem Mehl, Reis und Speiseöl. Dazu gibt es etwas Zucker, Linsen und Kichererbsen. Einen Teil davon verkauft sie, um etwas Geld für frisches Gemüse zu bekommen.

Sieben Kinder muss Abu Sultan versorgen. Zum Teil haben diese die Schule schon abgeschlossen, Arbeit finden sie jedoch keine. Abgesehen vom Lohn für ein paar Gelegenheitsjobs ist die Familie von Emnidal Abu Sultan ohne Einkommen.

Mehr als die Hälfte sind arbeitslos

Im Gazastreifen ist die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr laut UNO auf über 50 Prozent gestiegen, bei den Jugendlichen liegt sie weit höher. Nach zwölf Jahren weitgehender Abriegelung durch Israel und Ägypten liegt die Wirtschaft am Boden.

Das zeigt sich eindrücklich in einem Industriepark am Stadtrand von Gaza nahe der Grenze zu Israel. Hier haben Investoren vor Jahren für kleine und mittlere Unternehmen Fabrikhallen aufgestellt. Man wollte hier günstig für den Export nach Israel und in den Rest der Welt produzieren. Heute stehen fast alle Hallen leer, eine Firma nach der anderen macht dicht. 1400 Menschen arbeiten noch im Industriepark, in guten Zeiten waren es rund doppelt so viele.

Blockade würgt Wirtschaft ab

Laut dem Geschäftsführer des Industrieparks, Hatem Moghany, setzten die Schwierigkeiten im Jahr 2007 ein. Damals begann die Abriegelung des Gazastreifens. Israel reagierte damit auf die Machtübernahme durch die radikalislamische Hamas, welche die Existenz Israels ablehnt. Unternehmer in Gaza hatten fortan immer mehr Mühe, ihre Produkte zu exportieren. Heute verlassen nur noch ganz wenige Güter, vor allem Textilien, den Gazastreifen.

Junge Männer in einer Textilfabrik an Nähmaschinen
Legende: Eines der wenigen Güter, das Gaza noch verlässt, sind Textilien. SRF

Ein Unternehmer, der anonym bleiben will, sagt, die Schuld für den wirtschaftlichen Niedergang liege allein bei der Hamas und ihrer feindseligen Haltung gegenüber Israel. Es sei doch nur logisch, dass die Israeli die Grenzen schliessen, wenn sie von Hamaskämpfern immer wieder angegriffen und mit Raketen beschossen werden. Die Palästinenser hätten sich die Probleme selbst eingebrockt, meint er sichtlich aufgebracht.

Gaza geht das Geld aus

Nicht nur die fehlenden Exporte machen der Wirtschaft im Gazastreifen zu schaffen. Hatem Moghany sagt, jüngst sei die Kaufkraft stark zurückgegangen, die Binnennachfrage eingebrochen. Insgesamt befinde sich Gaza in der schlimmsten Wirtschaftskrise der Geschichte.

Verantwortliche für die Misere benennen mag Moghany nicht. Und als Manager sei es seine Aufgabe, optimistisch zu sein. Deshalb hofft er einfach, dass die politischen Verhältnisse dereinst wieder stabiler werden. Denn eigentlich sei Gaza sehr wettbewerbsfähig mit seinen gut ausgebildeten und gleichzeitig günstigen Arbeitskräften, meint Moghany.

Verlorene Jugend

Doch vorerst ist keine Wende in Sicht. Die Leidtragenden der Wirtschaftsmisere sind vor allem die Jugendlichen. Jene, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, finden in der Regel keine Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Gazastreifen bei rund 70 Prozent.

Ein Mann schiebt seinen Marktwagen über den Strand von Gaza
Legende: Für die Mehrheit der jungen Menschen in Gaza hört hier am Strand die Welt auf. Sie waren noch nie ausserhalb des Gazastreifens. Keystone

Hamada Nasrallah zum Beispiel hat Jus studiert. Nach dem Abschluss vor einem Jahr hat der 24-Jährige – wie alle seine Kommilitonen – keinen Job gefunden. Nun macht er Musik, tritt mit seiner «Sol Band» ab und zu bei einer Hochzeit oder einem kleinen Festival auf. Wir treffen ihn zusammen mit seinen Kollegen in einem dunklen Proberaum. Rauch von E-Zigaretten hängt in der Luft.

Musik als Überlebenshilfe

Von der Musik kann Hamada Nasrallah nicht leben, aber sie hilft ihm, zu überleben, wie er sagt. Er ist wegen der Blockade noch nie ausserhalb des Gazastreifens gewesen, wie die meisten jungen Menschen dort. Das Leben sei für sie eine einzige Tragödie und die Musik für ihn ein Weg, damit fertig zu werden.

Hamada Nasrallah bei seiner Bandprobe
Legende: Musik ist für Hamada Nasrallah (blauer Pullover) eine Überlebenshilfe. SRF

Mit der Politik hat der junge Mann mit den wachen Augen und der Baseballmütze abgeschlossen. Er traue niemandem mehr: den Israelis nicht, den USA nicht und auch nicht den eigenen palästinensischen Politikern. Er wolle nur noch fort von hier. Vielleicht sei dies dank der Musik eines Tages möglich, hofft Hamada Nasrallah.

Gaza droht der totale Zusammenbruch

Grosse Sorgen bereitet diese Hoffnungslosigkeit dem UNRWA-Direktor im Gazastreifen, Matthias Schmale. Die UNRWA ist so etwas wie der letzte stabilisierende Faktor in Gaza.

Matthias Schmale, UNRWA-Direktor in Gaza
Legende: Matthias Schmale, UNRWA-Direktor in Gaza: «Es droht der Zusammenbruch». SRF

Das UNO-Hilfswerk hat viele Aufgaben übernommen, die sonst ein funktionierendes Gemeindewesen erledigen würde: Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe. Schmale, der seit 2017 in Gaza lebt, glaubt, es laufe hier immer mehr auf einen totalen Zusammenbruch hinaus. Alle volkswirtschaftlichen Indikatoren seien im Sturzflug.

Die Hamas im Gazastreifen

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Die radikalislamische Hamas hat 2007 mit Gewalt die alleinige Kontrolle im Gazastreifen an sich gerissen. Sie wird von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Israel hat vor mehr als zehn Jahren eine Blockade über das Küstengebiet verhängt, die von Ägypten mitgetragen wird. Beide Länder begründen dies mit Sicherheitsinteressen.

Im Gazastreifen leben rund zwei Millionen Menschen unter schwierigen Bedingungen. Es mangelt unter anderem an Trinkwasser und Strom. Die Proteste richten sich auch gegen die von der Hamas verhängten Steuern, etwa auf Lebensmittel, Zigaretten und Kleidung.

Wie viele andere im Gazastreifen befürchtet der UNRWA-Direktor, dass die Krise zu einem Gewaltausbruch führen könnte. Zwei Szenarien stehen dabei im Raum: soziale Unruhen, bei denen die Hamas die Kontrolle verlieren und noch extremere Gruppierungen an die Macht kommen könnten. Oder dass sich die Frustration und die Wut erneut gegen Israel richtet und es zu einem neuen Krieg kommen könnte.

Doch nur schwarz malen mag Schmale nicht: Trotz all der Widrigkeiten treffe er in Gaza jeden Tag Menschen, welche die Hoffnung nicht aufgegeben hätten. Er sei manchmal überrascht, wie viel positive Energie es im Gazastreifen noch gebe, so Schmale.

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