Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist verheerend: Hilfsgüter stauen sich an den Grenzen, sauberes Wasser und medizinische Versorgung fehlen, und täglich sterben Dutzende Menschen – viele davon Kinder. Tess Ingram von Unicef war bereits dreimal im Gazastreifen und schätzt im Interview mit SRF News die dortige Situation ein.
SRF News: Wie sieht die aktuelle Situation in Gaza aus?
Tess Ingram: Die aktuelle Situation ist katastrophaler als je zuvor in diesem Konflikt. Für 70 Prozent des Gazastreifens wurde entweder eine Evakuierung angeordnet oder sie gelten als Sperrgebiet, in dem sich niemand aufhalten darf. In den vergangenen fünf Tagen wurden Berichten zufolge täglich mehr als 100 Menschen getötet – viele davon sind Kinder.
Man kann auf eine Katastrophe diesen Ausmasses nicht mit einer Handvoll Lastwagen reagieren.
Hinzu kommt, dass seit Monaten kein Tropfen Wasser und kein Essen durch Hilfslieferungen die Menschen erreicht hat. Die Krankheiten nehmen zu, weil es kein sauberes Wasser gibt und nicht genügend Medikamente vorhanden sind. Für Kinder ist das ein Teufelskreis.
Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die grössten Probleme?
Man kann auf eine Katastrophe diesen Ausmasses und nach der Blockade der Hilfsgüter nicht mit einer Handvoll Lastwagen reagieren – das ist unrealistisch. Die internationale Gemeinschaft sollte mit aller Kraft den israelischen Behörden klarmachen, dass sie ihren grundlegenden Verpflichtungen und dem humanitären Völkerrecht nachkommen müssen.
Der Gazastreifen ist zurzeit der gefährlichste Ort der Welt.
In den letzten Stunden sind bereits einige Lastwagen in den Gazastreifen gefahren, befinden sich aber immer noch an der Grenze. Die Hilfsgüter wurden also immer noch nicht an die Menschen verteilt. Das liegt daran, dass mehrere Prozesse durchlaufen werden müssen. Die LKWs müssen überprüft werden und dann muss die UNO die Erlaubnis erhalten, weiter ins Gebiet zu fahren. Wir müssen auf das sogenannte «grüne Licht» warten – und dieses haben wir noch nicht.
Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für Ihre Mitarbeitenden vor Ort ein, welche die Hilfsgüter verteilen sollen?
Mehr als 400 Helferinnen und Helfer sind in den letzten 18 Monaten im Gazastreifen ums Leben gekommen. Der Gazastreifen ist derzeit der gefährlichste Ort der Welt. Als ich selbst letztes Jahr in Gaza war, waren wir in einem Konvoi unterwegs. Während der Fahrt kamen wir unter Beschuss. Die Seiten, Türen und Fenster unseres Fahrzeuges wurden von Schüssen getroffen.
Immer öfter werden Babys zu klein, krank oder zu früh geboren.
Wir hatten Glück und alle sind unverletzt geblieben. Das ist nur ein kleines Beispiel für die Gefahren für humanitäre Helferinnen und Helfer. Das System, das uns eigentlich schützen sollte, das humanitäre Völkerrecht, wird schlicht nicht respektiert.
Wenn wir die Situation von Babys in Gaza anschauen: Was sind da die grössten Probleme?
Viele schwangere und stillende Mütter erhalten nicht die Nährstoffe, welche sie bräuchten, um sich selbst und die Säuglinge gesund zu ernähren. Ärzte haben mir vor ein paar Wochen bei einem Besuch in Gaza erzählt, dass immer mehr Babys zu klein, krank oder zu früh geboren werden. Die Babys bräuchten Brutkästen und Beatmungsgeräte. Doch viele wurden bei den Bombenangriffen auf Spitäler zerstört. Wir schätzen, dass es bis im März nächsten Jahres mehr als 70'000 Säuglinge geben wird, die an akutem Nährstoffmangel leiden werden. 70'000 Säuglinge sind eine grosse Zahl und wir müssen jetzt alles in unserer Macht Stehende tun, um das zu verhindern.
Das Gespräch führten Jonas Bischoff und Anita Bünter.