In letzter Zeit war die Wahrscheinlichkeit selten so gross, dass in Europa aus einem Konflikt eine kriegerische Auseinandersetzung werden könnte. An der russisch-ukrainischen Grenze stehen derzeit nach Angaben Kiews rund 100'000 russische Soldaten.
Hintergrund: Die Ukraine strebt seit geraumer Zeit eine Nato-Mitgliedschaft an und hat Militärhilfen aus den USA erhalten. Russland seinerseits sieht sich durch die Nato-Aktivitäten in seiner Sicherheit bedroht – und marschiert mit seinen Truppen auf. Muskelspiele oder Kriegsabsichten des Kremls?
Irgendwo zwischen Krieg und Frieden
SRF-Korrespondent David Nauer glaubt, dass es Putin diesmal ernst sein könnte. Doch nicht immer sind militärische Gefahren so plastisch, in der Form von Soldaten, sichtbar. Manchmal sind es auch Menschen, die als Waffen eingesetzt werden – in letzter Zeit etwa Migrantinnen und Migranten an der EU-Aussengrenze zu Belarus.
Die Rede ist dann jeweils von hybrider Kriegsführung. Ebendiese erforscht der Sicherheitsexperte Hans-Georg Ehrhart von der Universität Hamburg. «Der Begriff beschreibt, dass sich der klassische Krieg von früher – Staaten gegen Staaten und Militär gegen Militär – verändert hat.»
Abgelöst wurden Stellungskriege und Schützengräben von asymmetrischer Kriegführung, einer Grauzone, irgendwo zwischen Krieg und Frieden. Militärische Mittel können sich dabei mit nicht-militärischen, zivilen Mitteln abwechseln. «Letztlich kommt es immer darauf an, welchem politischen Zweck das Ganze dient», sagt Ehrhart.
Beide Seiten werfen einander vor, hybride Kriege zu führen und das eigene politische System und die eigene Gesellschaft destabilisieren zu wollen.
Und die hybride Kriegführung ist keineswegs autokratischen Staaten vorbehalten: Denn auch aus Peking und Moskau kommt immer wieder der Vorwurf gegen den sogenannten Westen, zu ebensolchen Mitteln zu greifen.
Eine Frage der Perspektive
«Beide Seiten werfen einander vor, hybride Kriege zu führen und das eigene politische System und die eigene Gesellschaft destabilisieren zu wollen», erklärt Ehrhart. «In dieser Sicht sind auch die westlichen Akteure die Bösen.»
Kreml-Chef Wladimir Putin wiederholt denn auch immer wieder, Russland reagiere lediglich auf die Aggressionen des Westens. Mit Blick auf die russische Befindlichkeit sagt der Konfliktforscher: «Auch wenn das hier niemand so gerne hört: Der Westen ist genauso hybrid unterwegs wie Russland – zumindest aus dessen Wahrnehmung.»
Die Grossmächte in der Echokammer
Ein Beispiel: Das jahrzehntelange westliche Engagement zur Demokratisierung der östlichen Nachbarn könne aus unserer Sicht eine «sehr legitime Veranstaltung» sein. «Aus Moskaus Sicht ist das Ganze ein Versuch des Westens, den russischen Einflussbereich zu untergraben.»
Die Ausführungen des Sicherheitsexperten zeigen: Die gegenseitigen Ressentiments haben sich zu einem unverrückbaren Weltbild verfestigt: «Der Westen wie auch der Osten sind der festen Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein», so Ehrhart. «Das ist brandgefährlich, weil dann keine Kompromisse mehr möglich sind.»
Den Vergleich zu den Echokammern, wie es sie in den Sozialen Medien gibt, hält der Forscher auch im Ränkespiel der Grossmachte für passend: «Keiner ist bereit, die eigene Position auch nur in Frage zu stellen und sich auf irgendein Argument des anderen einzulassen.» Was denkbar schlechte Voraussetzungen dafür sind, die Lage zu deeskalieren.