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Indiens Coaching-Metropole Brutaler Wettbewerb um Studienplätze in Indien

Zehntausende trimmen sich in der Kleinstadt Kota für die Aufnahmetests. Für viele wird Indiens Lernfabrik zum Alptraum.

Dutzende junge Leute in Schuluniform strömen zum Eingang eines mehrstöckigen Bürogebäudes. In den nächsten Stunden werden sie hier, im grössten Coaching-Institut von Kota, für die Aufnahmetests an den besten technischen Universitäten des Landes büffeln. Viele Studierende hoffen, dass ihre Chancen besser werden, wenn sie sich in Kota jahrelang vorbereiten.

Porträt von Vaidehi.
Legende: «Mein Traum ist es, Ingenieurin zu werden», sagt die 15-jährige Vaidehi. Am liebsten an einem renommierten IIT – einem der Indian Institutes of Technology. SRF / Maren Peters

Bis zu 225'000 junge Menschen aus ganz Indien pauken hier in einem der diversen Nachhilfeinstitute in der Kleinstadt Kota im nordwestlichen Bundesstaat Rajasthan. Viele erreichen ihr Ziel erst nach mehreren Anläufen, viele auch gar nicht.

Der Pionier

Ohne Pramod Maheshwari gäbe es das heutige Kota nicht. Der 53-Jährige fing Anfang der 1990er Jahre an, in seiner Heimatstadt Kota Nachhilfe in Physik zu geben, im Duo mit einem Mathematiklehrer. Sie waren erfolgreich: Überdurchschnittlich viele ihrer Studierenden schafften den Aufnahmetest an eine der besten Universitäten des Landes.

Pramod Maheshwari
Legende: Der Lehrer und Bildungsunternehmer Pramod Maheshwari hat Kotas Ruf als Coaching-Metropole mitbegründet. SRF / Maren Peters

Darum schicken immer mehr Eltern ihre Kinder nach Kota. Die Bewohner Kotas bauten ihre Häuser in Hostels für Studierende um, gründeten Studentenküchen. Es war der Anfang der 500 Millionen Dollar schweren Lernfabrik, die Kota heute ist.

«Zu Beginn hatten wir sensationellen akademischen Erfolg, weil wir nur die Talentiertesten in unsere Kurse aufnahmen», sagt Maheshwari. Doch ab der Jahrtausendwende gab es immer mehr Coaching-Institute in Kota.

Von den Zehntausenden sind nur fünf Prozent hochbegabt. Niemand sagt den anderen, dass sie den Test wahrscheinlich nicht bestehen.
Autor: Pramod Maheshwari Bildungsunternehmer

Die Institute begannen, auch weniger begabte junge Leute zu akzeptieren, sagt der Coaching-Unternehmer. Es sei bald mehr ums Geldverdienen gegangen als um gute Bildung.

Von den Zehntausenden Studierenden, die nach Kota kämen, seien nur fünf Prozent hochbegabt, sagt Maheshwari. Nur sie hätten Chancen, in den Tests weit vorn zu landen. Um sie buhlten alle Institute, mit Stipendien und sogar Jobangeboten für die Eltern.

Schule.
Legende: Unterricht in einem der vielen Coaching-Institute Kotas. Wer im bevölkerungsreichsten Land der Welt nicht unter «ferner liefen» untergehen will, braucht eine möglichst gute Ausbildung. Die Plätze an den renommierten Universitäten sind heiss begehrt. SRF / Maren Peters

Mit den übrigen 95 Prozent Studierenden verdienten die Institute ihr Geld. Niemand sage ihnen, dass sie den Test wahrscheinlich nicht bestehen. Pramod Maheshwari ist nicht glücklich über diese Entwicklung, obwohl er mit seiner Coaching-Kette «Career Point» selbst ein wichtiger Mitspieler in der Branche ist.

Kotas DNA ist zerstört worden. Die DNA war exzellent. Jetzt ist es sehr kommerziell geworden.
Autor: Pramod Maheshwari Blldungsunternehmer

Kotas DNA sei zerstört worden, stellt Maheshwari fest. «Die DNA war exzellent. Jetzt ist es sehr kommerziell geworden.» Das zeige sich in deutlich schlechteren Ergebnissen der Kota-Zöglinge bei den landesweiten Tests. Seit 2005 hätten es mehr als ein Drittel der Studierenden aus Kota landesweit unter die Top 100 gebracht. Heute seien es manchmal zwei, manchmal fünf Prozent.

Studierende mit schattenspendenden Regenschirmen.
Legende: Studierende in Kota eilen zur nächsten Unterrichtseinheit. Viele bereiten sich monate- oder gar jahrelang auf eine Aufnahmeprüfung an einer renommierten Universität vor. SRF / Maren Peters

Suizide nach Misserfolgen häufen sich

Das führe zu einem hohen Stresspegel bei den Studierenden, räumt der Bildungsunternehmer ein. Die Folge davon: Drogenmissbrauch, Depressionen, manchmal Selbstmord.  Allein in diesem Jahr haben sich schon zwölf Studierende in Kota das Leben genommen. Anfang Mai starb ein 20-Jähriger kurz vor seinem dritten Anlauf zum Medizinstudium. Er hinterliess eine Botschaft: «Sorry, Papa. Ich habe es wieder nicht geschafft.»

«Wenn ein Kind nicht reden kann, wird es ernst.»

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Porträt der Psychiaterin Neena Vijayvargiya.
Legende: Psychiaterin Neena Vijayvargiya berät Studierende bei Depressionen und Angststörungen in der «Healthy Mind Clinic». SRF / Maren Peters

Die Psychiaterin Neena Vijayvargiya berät Studierende bei Depressionen und Angststörungen. «Healthy Mind Clinic» steht über ihrer Tür. Einige Jugendliche hätten schon vorher mentale Probleme gehabt, sagt sie. Wenn sie in Kota dann mit dem Lerndruck nicht zurechtkämen, sensibel seien, schlechtere Prüfungen schrieben als andere, hätten sie Stress.

Die meisten Eltern verstünden ihre Kinder nicht, sondern setzten zusätzlichen Druck auf. Sie sagten: «Wir haben so viel Geld in dich investiert, wir haben unser Land für dich verkauft – streng dich mehr an!» Für die meisten indischen Eltern zähle allein die Rangliste bei den Aufnahmetests, sagt die Psychiaterin. Sie versuche ihnen beizubringen, dass auch Scheitern zum Leben gehöre.

Die Eltern nickten dann. Doch Minuten später beschimpften sie ihr Kind schon wieder. «Du bist nutzlos, du lernst nichts.»  Das sei eine grosse Last für die Kinder. Und wenn ein gestresstes Kind nicht reden kann, dann wird es ernst, sagt die Psychiaterin.

Echo der Zeit, 02.08.2024, 18:00 Uhr

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