Jahrzehnte existierten sie im Untergrund, dann der grosse Aufstieg: Die Muslimbruderschaft übernimmt 2012 die Macht in Ägypten. Die Islamisten mit Mohammed Mursi an der Spitze sitzen nicht lange auf dem Olymp. Nach einjähriger Präsidentschaft entfernt das Militär im Juli 2013 Mursi aus seinem Amt.
Und nun dies: Ein Gericht untersagt den Muslimbrüdern jede Tätigkeit. Das heisst nicht, dass die die Organisation nun in Ägypten verboten ist. «Die Muslimbruderschaft kann man gar nicht verbieten. Denn sie existiert gar nicht offiziell als religiöse Organisation», erklärt Islamwissenschaftler Reinhard Schulze im Gespräch mit SRF News Online.
Staat übernimmt die Kontrolle
Weiterhin existieren darf auch die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, deren Vorsitzender Mursi war. Verboten ist die Muslimbruderschaft als Nichtregierungsorganisation (NGO). Die NGO hatte Mursi in einer Nacht- und Nebelaktion im März 2013 gründen lassen. Sie ist die Schaltzentrale der Muslimbrüder. In ihr läuft das gesamte Netzwerk zusammen. Und: das ganze Geld. Dieses Vermögen soll nun eingefroren und unter Staatskontrolle gestellt werden.
«Man wird versuchen über dieses Netzwerk die Aktivitäten der Muslimbrüder unter Kontrolle zu bekommen. Die Übergangsregierung kann die Finanzströme beobachten und herausfinden, welche Persönlichkeiten mit den Muslimbrüdern verbunden sind», erklärt Schulze diesen Schritt.
Aber es geht vor allem auch um viel Geld. Damit hatte die Muslimbruderschaft unter anderem unzählige soziale Projekte finanziert. Sie hatte in den vergangenen Jahrzehnten ein landesweites Netzwerk aus Wohltätigkeitsorganisationen aufgebaut, ein Sicherheitsnetz für die ärmste Bevölkerungsschicht: Armenspenden, Kindergärten, Krankenhäuser.
SRF News Online: Was passiert nun mit den Institutionen?
Reinhard Schulze: «Der Staat kann Geld aus der Kasse nehmen und Projekte finanzieren. Das wird er machen quasi «in Vertretung der Muslimbruderschaft». Der Staat hat direkten Zugriff auf das Geld der gesperrten Konten. Ärzte oder Leute, die in Tagesstätten arbeiten, werden nun vom Staat finanziert werden. Man kann den Ärzten schliesslich nicht den Job kündigen, nur weil sie Muslimbrüder waren. Das soziale Potenzial der Muslimbruderschaft als Netzwerk bleibt sicherlich bestehen.»
SRF News Online: Wie viel Geld ist in diesem Topf?
«Das wird die ägyptische Regierung jetzt herausfinden. Die NGO muss nun die Bücher offen legen. Geld aus dem Ausland etwa von Familien aus Amerika. Und viel aus Katar. Insgesamt dürften es einige Milliarden sein.»
Irgendwann wird dieses Konto aber ausgeschöpft sein. Der Staat werde kaum das ganze Konto trockenlegen, vermutet Schulze. Die politische Führung sei sich noch nicht über das weitere Vorgehen klar. Generell nimmt die Übergangsregierung unterschiedliche Positionen ein: einige sind für das Verbot der NGO, andere dagegen. Die Muslimbrüder werden gegen das Verbot Einspruch einlegen. Die Islamisten sind der Auffassung, das Kairoer Gericht für Eilverfahren sei in der Angelegenheit gar nicht zuständig gewesen.
«Schuss ging nach hinten los»
Allerdings haben sich die Muslimbrüder auch selbst in diese Situation hinein manövriert. Die von Präsident Mohammed Mursi verordnete Registrierung als NGO galt eigentlich als rechtliche Absicherung – doch dies hat nun verhängnisvolle Folgen. «Der Schuss ging nach hinten los. In diesem Moment haben sie ein Türchen geöffnet: eine Staatskontrolle über die Aktivitäten der NGOs – auch der Muslimbrüder», so Schulze.
Seit der Absetzung Mursis im vergangenen Juli ist die Stimmung in Kairo angespannt: gewalttätige Demonstrationen, in Kairo gab es einen Bombenanschlag sowie einen vereitelten Anschlag auf die Metro.
SRF News Online: Nun kann der Staat frei über das Geld der Muslimbrüder verfügen. Das birgt ein gewaltiges Frustpotenzial. Rechnen Sie mit einer Radikalisierung und weiteren Anschlägen?
Reinhard Schulze: «Auf alle Fälle. Aus Rache werden bestimmte Teile der Muslimbrüder das Verbot als Argument sehen, sich gegen den Staat zur Wehr zu setzen. Und dies vielleicht auch in militanter Form. Um zu zeigen: Wir sind noch da.»
SRF News Online: Sie sagen das ziemlich nüchtern. Weshalb?
Reinhard Schulze: «Für den Einzelnen ist so ein Ereignis selbstverständlich eine Katastrophe. Aber es wird nicht zu der Art von Militanz kommen wie beispielsweise im Irak. Dort werden solche Attentate als Teil eines grösseren Kampfes gesehen. Das wird es in Ägypten nicht geben können. Wenn es dort einen Anschlag gibt, sind es isolierte Aktionen von kleinen Verbänden. Der Staat kann diese sicherlich unter Kontrolle bringen.»