Die Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich heute und morgen in Brüssel. Thema: Wie weiter nach dem Brexit? Einige Regierungen, darunter die deutsche, möchten den Briten nun Zeit lassen, sich zu organisieren. Andere, dazu gehört die französische, drängen auf einen sofortigen Austrittsantrag Londons.
Im Gespräch schildert SRF-Frankreich-Korrespondent Charles Liebherr die Stimmung in Frankreich nach dem Brexit und die Beweggründe der Regierung Hollande für ihre Haltung.
SRF News: Warum verfolgen die Franzosen nach dem Brexit-Votum eine harte Linie gegenüber den Briten?
Charles Liebherr: Es gibt auch in Frankreich keine Politik ohne Kalkül. Viele Politiker von links bis rechts wollen verhindern, dass es für die Briten oder später auch für andere Länder eine EU «à la Carte» geben könnte. Denn die französischen Politiker fürchten, dass im eigenen Land eine grundsätzliche EU-Debatte aufflammen könnte. Frankreich versteht sich als tragender Pfeiler des Friedensprojekts EU, das Rechte und Pflichten beinhaltet. Ausserdem basiert für die Franzosen das Modell EU auf gegenseitiger Solidarität, wozu auch der ökonomische Ausgleich unter den Euro-Staaten gehört. Frankreich will um jeden Preis verhindern, dass dies nun grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Im Gegensatz zu Frankreich möchte Deutschland den Briten etwas mehr Zeit lassen. Könnte es deshalb am heutigen EU-Gipfel zu Konflikten zwischen Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel kommen?
Sowohl Hollande wie Merkel werden vor den Medien immer betonen, dass man am gleichen Strick ziehe. Das hat man bereits am Wochenende bei kleinen aufkeimenden Unstimmigkeiten sehen können. Allerdings bestehen tatsächlich erhebliche Differenzen zwischen den beiden Politikern und den diplomatischen Corps der beiden Länder. Es gibt keine gemeinsam getragene gemeinschaftliche Perspektive mehr, wohin sich die EU jetzt entwickeln soll: Über Wirtschaftspolitik, in Fragen rund um Sozialdumping im Rahmen der Personenfreizügigkeit sowie in Migrations-, Aussen- und Verteidigungspolitik sind in Paris und Berlin erhebliche gegensätzliche Vorstellungen vorhanden. Diese Differenzen fallen mit dem Brexit nicht einfach weg. Deshalb glaube ich nicht, dass die vielbeschworene deutsch-französische Integrationslokomotive nun mit voller Kraft anfährt.
Die EU-Gegner in Frankreich fordern jetzt ebenfalls ein Referendum.
Kaum war der Brexit-Entscheid gefallen, wurden in Frankreich Konsequenzen gefordert. So wurde verlangt, dass britische Grenzbeamte die aus Frankreich einreisenden Personen nicht mehr in Calais, sondern erst auf britischem Boden kontrollieren dürfen sollen, was massive Auswirkungen auf die britische Einwanderungspolitik hätte. Wie sind solche Forderungen aus Frankreich zu werten?
Tatsächlich kontrollieren britische Grenzwächter die Einwanderung nach Grossbritannien schon im Hafen von Calais. Die EU-Aussengrenze befindet sich genau genommen dort, denn Grossbritannien ist nicht Mitglied des Schengen-Raumes. Tatsächlich gibt es nun nordfranzösische Politiker, welche die bisherige Lösung mit den Briten in Frage stellen. Konkret würde das heissen, dass französische Grenzbeamte die in Calais gestrandeten Migranten nicht mehr daran hindern würden, auf einen Zug oder eine Fähre nach Grossbritannien zu gelangen. Es gäbe also keine Ausreisekontrolle aus Frankreich mehr, sondern nur noch eine Einreisekontrolle in Grossbritannien. Tatsächlich muss diese Frage geklärt werden. Es ist dies allerdings nur einer von unzähligen bilateralen Verträgen zwischen Grossbritannien und Frankreich, die jetzt auf ein neues Fundament gestellt werden müssen. Ausserdem wird die französische Politik versuchen, den Austritt der Briten aus der EU wirtschaftlich für sich zu nutzen und etwa Banken oder Teile des grossen Werbe- und Filmindustriemarktes nach Paris zu locken. In den kommenden Monaten werden wir in verschiedensten Bereichen Lockrufe aus Paris in Richtung London hören. Mit anderen Worten: Es wird Brexit-Verhandlungen in Brüssel geben und parallel dazu Verhandlungen über viele bilaterale Abkommen zwischen Paris und London. Dabei muss das künftige Verhältnis zwischen den beiden Nachbarländern geklärt werden.
Es gibt eine Kluft zwischen Metropolen und ländlichen Gebieten mit mittelgrossen Städten.
Auch in Frankreich gibt es viele EU-Kritiker. Wie würden die Franzosen entscheiden, wenn sie über einen EU-Austritt ihres Landes an der Urne abstimmen könnten?
Das ist einfach zu sagen: Würde Frankreich heute ebenfalls ein Referendum zur EU durchführen und seinen Bürgern dieselbe Frage stellen, käme es zum gleichen Resultat wie in Grossbritannien. Alle Beobachter und Politik-Kommentatoren sind sich darin einig. Es gibt in Frankreich die gleiche Kluft zwischen wirtschaftlich starken Metropolen, die voll auf EU-Kurs sind, und ländlichen Regionen und mittelgrossen Städten, die sich von der Politik in Paris und Brüssel vergessen fühlen. So hat etwa der rechtsextreme Front National in den vergangenen Jahren genau dort stetig zulegen können. Entsprechend fordern die EU-Gegner in Frankreich jetzt ebenfalls ein Referendum zur EU – und die EU-Befürworter machen um diese Frage einen grossen Bogen.
Das Gespräch führte Stefan Kohler.