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Demonstranten
Legende: Die Demonstranten forderten Premier Gunnlaugsson zum Rücktritt auf. Reuters

International «Das war erst die Spitze des Eisbergs»

Islands neuster Finanzskandal hat die Insel erschüttert, vorgezogene Neuwahlen sind möglich. Für den Nordeuropa-Experten Tobias Etzold sind die neusten Enthüllungen keine grosse Überraschung, sondern eine Fortführung der intransparenten Politik einiger isländischer Parteien.

Die isländische Volksseele kocht. Nachdem enthüllt wurde, dass der Premierminister Sigmundur Davið Gunnlaugsson zusammen mit seiner Frau heimlich eine Briefkastenfirma auf den britischen Jungferninseln unterhält, hat die Wut Tausende Menschen auf die Strasse getrieben.

In Reykjavik versammelten sich gegen 10‘000 Demonstranten auf dem zentralen Platz vor dem Parlament – die wahrscheinlich grösste Kundgebung in der Geschichte Islands.

Sie forderten den Rücktritt von Premier Gunnlaugsson und Neuwahlen, sowie eine transparentere Politik. Denn es ist vor allem die mangelnde Transparenz ihres Premierministers, die viele Isländer wütend macht.

Aufräumaktionen nach der Finanzkrise

Gemäss Tobias Etzold, Nordeuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, kommen vielen Menschen die Erinnerungen aus der Finanzkrise von 2008 und 2009 hoch. Damals hätten auch intransparente Finanzgeschäfte zum Staatsbankrott geführt, die teilweise über Offshore-Firmen in Steueroasen abgewickelt wurden.

Für den SRF-Nordeuropa-Korrespondenten Bruno Kaufmann ist der jetzige Skandal aber eine Überraschung. «Es gab in den letzten acht Jahren eine intensive Debatte über die Finanzkrise und eine regelrechte Aufräumaktion.» Viele ehemalige Banker sässen im Gefängnis oder seien von ihren Posten verjagt worden. Und auch die Machtpositionen in den Parteien seien mit frischen Personen besetzt worden.

Intransparente Regierung

Anders sieht es Tobias Etzold von der SWP. Er ist überzeugt: «Die jetzigen Enthüllungen sind nur die Spitze des Eisbergs.» Denn die Koalition aus Fortschrittspartei und Unabhängigkeitspartei sei nicht durch Transparenzbemühungen aufgefallen.

Seit deren Regierungsantritt 2013 seien einige der Errungenschaften der rot-grünen Vorgängerregierung zurückgedreht und an alte Zeiten angeknüpft worden. Die konservative Unabhängigkeitspartei ist laut Etzold mitverantwortlich für die Finanzkrise. Sie war schon damals Regierungspartei.

In den letzten Jahren kam es ausserdem immer wieder zu Verletzungen der Pressefreiheit. Zudem ist das Wahlversprechen eines EU-Referendums gebrochen worden. Die Isländer sollten über die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen abstimmen. Die Regierung entschied sich aber ohne die Zustimmung des Parlaments gegen das Referendum.

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Starke Verbandelung von Wirtschaft und Politik

Zudem sei die Unabhängigkeitspartei bekannt für ihre Verbandelung mit der isländischen Wirtschaft. «Viele Leute behaupten, dass die EU-Verhandlungen vor allem deshalb gestoppt wurden, weil die Fischerei-Industrie um ihre Pfründe bangte,» sagt Etzold.

Ein Beispiel dafür ist Davíð Oddsson. Als Mitglied der Partei amtete er jahrelang als Premierminister, war während der Finanzkrise Zentralbankchef, gilt als Schutzpatron der Fischer und ist heute Chefredaktor der grössten Tageszeitung.

Piraten könnten profitieren

SRF-Korrespondent Kaufmann gibt aber zu bedenken, dass Island ein kleines Land mit wenigen Einwohnern ist. «Die Auswahl an Personal ist beschränkt und eine gewisse Verbandelung unvermeidlich.» Wenn eine neue politische Klasse ankomme, verschwinde die alte nicht automatisch. Und trotzdem: «Die Isländer wollen einfach eine saubere Politik.»

Diese könnte die Piratenpartei bieten. Sie gilt als unverbrauchte Kraft und vereint in Wahlumfragen mehr potentielle Stimmen auf sich als beide Regierungsparteien zusammen.

Einen Erfolg der Piraten bei den nächsten Wahlen hält Etzold für möglich. «Island ist zwar ein strukturkonservatives Land, aber gleichzeitig immer wieder offen für Experimente.» Von 2010 bis 2014 war mit Jon Gnarr ein Komiker aus der linken Kulturszene Stadtpräsident von Reykjavik und habe zur Überraschung aller als Nichtpolitiker einen guten Job gemacht.

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