SRF News Online: Herr Willi, seit Sie Ihre Doktorarbeit über die Muslimbruderschaft in Ägypten begonnen haben, ist der Arabische Frühling ausgebrochen, hat der Muslimbruder Mursi die Präsidentschaft gewonnen und wieder verloren. Es ist wohl nicht ganz einfach, mit Ihrem Forschungsobjekt Schritt zu halten?
Es ist grossartig für einen Historiker, wenn man in die Geschichte, welche man behandelt, richtig hineingezogen wird. Ich habe der Universität Oxford Ende 2010 die Muslimbruderschaft als Thema vorgeschlagen, weil ich sie für politisch und historisch relevant hielt und man relativ wenig über sie wusste. Kurz darauf brach der Arabische Frühling aus. Seit Juni 2012 habe ich ein Jahr in Kairo verbracht, genau während der einjährigen Präsidentschaft von Mohammed Mursi. Ich muss sagen, ich habe mir in dieser Zeit kein abschliessendes Urteil über die Muslimbrüder bilden können. Ich passe meine Meinung fortlaufend an die Ereignisse an, beurteile die Organisation immer differenzierter.
2012 haben die Muslimbrüder die ersten demokratischen Wahlen in Ägypten gewonnen. Nur gerade ein Jahr später sind sie am Ende. Wie kann es sein, dass sich die Ägypter so getäuscht haben?
Ganz grundsätzlich haben die Muslimbrüder nicht nur dem westlichen Ausland, sondern auch ihren Landsleuten jahrelang zwei verschiedene Gesichter gezeigt. Nach aussen präsentierte die Organisation ihre reformistische Seite, die einen Islam vertrat, der eher westlichen demokratischen Vorstellungen entsprach. Doch innerhalb der Organisation dominierte immer der konservative Flügel, der die für die Indoktrination zuständigen Positionen beherrschte. 2010 kam es zu einer eigentlichen Palastrevolte, die Reformisten wurden verdrängt.
Der Wahlsieg 2012 lässt sich erklären. Es ist immerhin die älteste Oppositionspartei. Zum Zeitpunkt der Wahl waren sie die Einzigen mit einem guten Netzwerk, mit Ideen, die grösser sind als ihre Organisation. Und es gab keine eigentliche Konkurrenz von anderen Oppositionsgruppen. Reformislamisten haben sich während des Präsidentschaftswahlkampfs gegenseitig aus dem Rennen gedrängt. Zudem ist Mursi nur unter einer Reihe von Auflagen Präsident geworden. Zum Beispiel konnte das Militär seine Privilegien behalten, während andererseits die Muslimbrüder in eine enge Allianz mit der US Regierung traten.
Nach nur einem Jahr wurde Mursi abgesetzt...
Man darf nicht vergessen, er hatte nie ganz Ägypten hinter sich. Sein Sieg gegen Shafik als Vertreter des alten Regimes ist recht knapp ausgefallen. Und nach der Wahl hat er sich sehr schnell unbeliebt gemacht. Er hat sich nie bemüht, ein Präsident für alle Ägypter zu sein. Er hat nur eine Politik für die Bruderschaft gemacht. Schon in seiner Antrittsrede hat er von «meinem Stamm, meiner Familie» gesprochen. Da haben die Menschen gemerkt, was ihnen blüht.
Die Proteste in diesem Sommer waren heftig. Es waren sicher nicht 30 Millionen Ägypter auf der Strasse, auch nicht 20 oder 10, aber landesweit sicher über 5 Millionen, die Mursi unter Druck gesetzt haben. Diesen Protest hat das Militär für sich genutzt, um die Macht zu übernehmen.
Und jetzt? Sind die Muslimbrüder am Ende?
Das mag im Moment so erscheinen. Aber in ihrer über 80-jährigen Geschichte waren sie schon mehrmals ganz unten. Und immer sind sie wieder hochgekommen. Sie sind die Bewegung in der islamischen Welt mit der am weitesten akzeptierten «Theorie» des politischen Islams.
In Ägypten durchlebt die Organisation eine ganz schwierige Zeit: Die oberste Riege sitzt praktisch vollständig im Gefängnis, die zweite und dritte Riege werden auch zerschlagen. Im Moment erleben wir mit dem Erstarken des Militärs eine Konterrevolution, die ursprünglichen Ziele der ägyptischen Revolution – Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit – sind im Moment blockiert. Aber ich bin sicher, die nächsten Episode kommt. Der Lauf der Geschichte überrascht uns immer wieder.
Wie wird die Rolle der Muslimbrüder aussehen?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt wohl drei Szenarien. Die Wiedereingliederung ins politische System ist zurzeit sicher schwierig. As-Sisi, der starke Mann des Militärs, geniesst in der Bevölkerung viel Unterstützung. Er hat es gar nicht nötig, mit den Muslimbrüdern zu verhandeln. Eine andere Möglichkeit, sie fahren weiter mit kleinen Protestaktionen. Oder sie denken langfristig um und streben eine Zusammenarbeit mit Dschihadisten an.
Was wollen die Muslimbrüder eigentlich?
Der nationale Diskurs ist meiner Ansicht nach eine Vorstufe für ihr wirkliches, internationales Ziel eines Kalifats. Also eine Zusammenführung der islamischen Gemeinschaft unter einem geistigen Führer.
Um die Muslimbrüder besser einordnen zu können, gibt es in Europa vergleichbare Entwicklungen oder Organisationen?
Vergleiche sind schwierig, aber mir kommt spontan der Kommunismus in den Sinn. Die globale Vorstellung, die revolutionäre Theorie, die verschiedenen Stadien der Entwicklung. Andererseits hat der politische Islam nie das theoretische Fundament des Kommunismus. Es fehlen Denker wie Marx oder Lenin. Der vermeintliche Fortschritt ist eigentlich eine utopische Rückwärtsgewandtheit.
Können sich die Muslimbrüder modernisieren?
Der politische Islam beruht auf der felsenfesten Überzeugung, dass der Sozialvertrag einer gerechten und freien Gesellschaft auf den Prinzipien der Scharia, also des von Gott für die Menschen verordneten Gesetzes, basieren muss. Ich glaube nicht, dass es die Muslimbruderschaft fertigbringt, die Ideologien ihres Gründers Hasan al-Banna salonfähig zu machen. Dazu fehlen ihnen die grossen Intellektuellen. Und es gibt in Ägypten, im Islam so fundamentale Differenzen über das Gesellschaftsmodell, den Sozialvertrag. Im Moment ist es wohl zu schwierig, diesen Spagat zu schaffen.
Das Gespräch führte Ueli Merz.