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David Cameron und Angela Merkel küssen sich zur Begrüssung.
Legende: Küsschen zur Begrüssung bald vorbei? Grossbritannien und Deutschland pflegten enge wirtschaftliche Beziehungen. Reuters/Archiv

International «Deutschland verliert einen Verbündeten»

Sorgenfalten in Berlin: Durch den Brexit verschieben sich die Machtverhältnisse in den Entscheidungsgremien der EU. Für Deutschland dürfte es künftig schwieriger werden, wirtschaftsliberale Beschlüsse durchzubringen, wie Michael Wohlgemuth sagt. Er ist Direktor der Denkfabrik Open Europe Berlin.

Michael Wohlgemuth

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Der Ökonom ist Direktor der Denkfabrik Open Europe Berlin. Der Professor unterrichtet politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke. Open Europe Berlin setzt sich «für grundlegende Reformen in der EU» ein.

SRF News: Welche Folgen hat der Brexit für Deutschland?

Michael Wohlgemuth: Der Brexit hat grosse Konsequenzen für Deutschland. Grossbritannien ist der drittgrösste Handelspartner des Landes. Viele deutsche Firmen wie Siemens, Bosch und BMW sind mit Investitionen stark in Grossbritannien engagiert. Was genau passieren wird, kann aber zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht gesagt werden. Grossbritannien tritt ja nicht schon nächste Woche aus der EU aus.

Welche Optionen hat Grossbritannien mit Blick auf das weitere Vorgehen?

Es gibt zwei Möglichkeiten, die mit wenig Aufwand für London verbunden wären und die Zeit der Unsicherheit verkürzen könnten. Die eine wäre die Übernahme des bereits etablierten norwegischen Modells, des europäischen Wirtschaftsraums. Damit hätte London für Dienstleistungen Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Gleichzeitig brächte dieses Modell aber genau die Nachteile mit sich, welche die Befürworter des Brexits immer angeprangert haben: Personenfreizügigkeit, Einzahlung ins EU-Budget und automatische Übernahme von Regulierungen im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt.

Merkel ist bekannt für ihre Geduld und ihren Pragmatismus.

Die andere Möglichkeit wäre der vollständige Ausstieg aus der EU. Grossbritannien würde zu einem Drittstaat, es gälten die Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Hier wären die ökonomischen Konsequenzen dramatisch; es würden wieder Zölle erhoben, Handelsbarrieren gälten. London könnte im Gegenzug aber eine relativ unabhängige Wirtschaftspolitik betreiben.

Ist das mit ein Grund, weshalb die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eher abwartend reagiert und Grossbritannien mehr Zeit zum Nachdenken einräumen will?

Ja, es gilt nun in Ruhe herauszufinden, was zum Vorteil beider Seiten erreicht werden kann. Merkel ist bekannt für ihre Geduld und ihren Pragmatismus. Die Briten brauchen Zeit, momentan herrscht in dem Land das komplette Chaos. Nicht einmal die EU-Gegner sind sich über das weitere Vorgehen einig. Die Briten nun unter Zeitdruck zu stellen wäre nicht hilfreich.

Die Stimmverhältnisse in der EU verschieben sich ohne Grossbritannien sehr deutlich zugunsten der südeuropäischen Länder.

Wie teuer der Brexit Deutschland zu stehen kommt, ist das eine. Noch fast mehr Bauchschmerzen bereiten dürfte Merkel aber, dass Deutschland mit Grossbritannien einen wichtigen Verbündeten im EU-Rat verloren hat.

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Der Europäische Rat ist das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU. Trifft sich der Rat, spricht man von einem EU-Gipfel.

Der EU-Ministerrat ist die Staatenkammer der EU. Zusammen mit dem EU-Parlament (Bürgerkammer) übt er die Rechtsetzung der EU aus.

Das ist tatsächlich der Punkt, der die Kanzlerin und die Regierung in Berlin wohl am meisten umtreiben. Sie haben alles unternommen, damit es nicht zu einem Brexit kommt und kamen Grossbritanniens Premier David Cameron weit entgegen. Die Stimmverhältnisse im EU-Ministerrat und im Europäischen Rat verschieben sich ohne Grossbritannien sehr deutlich zugunsten der südeuropäischen Länder. Letztere haben klar andere wirtschafts- und ordnungspolitische Vorstellungen darüber, wie es in der EU weitergehen soll. Deutschland verliert einen Verbündeten für Freihandel, offene Märkte und Wettbewerbsfähigkeit. Für Berlin ist das langfristig gesehen die schwierigste politische Konsequenz.

Das Gespräch führte Tina Herren.

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