Ausgerechnet die Briten, die halfen, Europa von Hitler zu befreien. Ausgerechnet die Briten, die federführend an der europäischen Nachkriegsordnung beteiligt waren. Ausgerechnet sie verlassen nun die Europäische Union. In dieses Klagelied dürfte manch Europäer einstimmen, der den Aufbau des «Friedensprojekts EU» hautnah miterlebt hat. Wolfgang Schüssel ist einer von ihnen. «Ich war entsetzt», kommentiert er den Brexit.
Schüssel gehörte ab 1989, dem Jahr, in dem der eiserne Vorhang fiel, der österreichischen Regierung an. Er erlebte grosse europäische Staatsmänner wie Helmut Kohl oder François Mitterand als Aussenminister; ab der Jahrtausendwende amtete er sieben Jahre lang als österreichischer Bundeskanzler.
Kultiviertes Unbehagen an Europa
Das Votum der britischen Wähler war knapp. Vorausgegangen war ein Abstimmungskampf, in dem Befürworter und Gegner eines Austritts aus allen Rohren schossen. Nun hat sich der Rauch verzogen, und auf der Insel herrsche «gewaltiger Katzenjammer», diagnostiziert das langjährige Aushängeschild der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Niemand habe einen Plan B nach einem Brexit: «Jetzt stellt sich heraus, dass teils wirklich gelogen wurde. Das ist deprimierend, ja fast frivol.»
Nichtsdestotrotz: Auch Brüssel vermochte die britischen Wähler nicht für die europäische Idee zu begeistern – und damit einen Plan A zu skizzieren. Ein Vorwurf, den Schüssel nicht gelten lassen will. Cameron und seine Regierung hätten ohne Notwendigkeit ein Referendum angesetzt: «Und wenn man jahrelang die Skepsis an dem Projekt schürt, braucht man sich auch nicht wundern, wenn die Leute am Ende skeptisch werden.»
Das Unbehagen an Europa sei jedoch keine Erfindung der Regierung Cameron, sondern sei schon von früheren Regierungen kultiviert worden, so Schüssel: «Wenn man das europäische Projekt für richtig hält, muss man auch dafür kämpfen: mit offenem Visier und mit ganzer Kraft.» Ein leidenschaftliches Plädoyer für die EU also – für jenes Gebilde, das niemand so lustvoll als anonymen Verwaltungsmoloch brandmarkte wie die Briten.
Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Rachegedanken sind fehl am Platz.
Schüssel hält diesen Blick auf die Institutionen für verfehlt. Nach wie vor sei die EU ein Friedensprojekt. Weltweit seien zig Millionen Menschen auf der Flucht, hunderte bewaffnete Konflikte loderten: «Wie wir uns verhalten, bleibt eine Frage von Krieg und Frieden. Wir müssen in der Lage sein, Stabilität zu exportieren, um nicht Instabilität importieren zu müssen.»
Dieser Verantwortung müssten sich auch die Nationalstaaten annehmen: «Jeder Politiker, dem Europa am Herzen liegt, muss mit ganzer Kraft dafür werben.» Es brauche Bürgernähe statt undurchsichtige Absprachen in Hinterzimmern, so Schüssel: «Man muss die richtige Sprache finden.»
Kampf um die Herzen der Bürger
Um eine «bürgernahe» Ausdrucksweise bemühten sich derweil die Brexit-Befürworter. So etwa Camerons Justizminister Michael Gove, der die EU als «jobvernichtende, Elend erzeugende, Arbeitslosigkeit schaffende Tragödie» betitelte. «Das macht mich sprachlos», so der österreichische alt Bundeskanzler. Zumal London bei der Personenfreizügigkeit – im Unterschied etwa zu Österreich – freiwillig auf jede Übergangsfrist bei der Osterweiterung verzichtet habe: «Die damalige Labour-Regierung unter Tony Blair rechnete mit 50‘000 Polen. Es kamen über eine Million. Das war nicht ein Fehler auf europäischer Ebene.»
Konstruktive Kritik hält Schüssel zwar für angebracht und notwendig: «Die Lösung kann aber nicht sein, dass man sich zurückzieht ins nationale Schneckenhaus und glaubt, dass man Fragen wie Klimawandel, Terrorgefahr oder die Flüchtlingskrise und vieles andere alleine besser bewältigen kann als gemeinsam.» Manches möge zu zentralistisch gehandhabt werden, zu oft werde auf «Mikro-Management» gesetzt – diese Kritik müsse sich die EU gefallen lassen: «Die grossen Themen müssen prioritär behandelt werden. Das hat, wie ich glaube, jeder verstanden. Und hier könnte die Lösung sein, um das Vertrauen der Bürger wieder zu gewinnen.»
Europas politische Mitte muss aufstehen
Davon ist aktuell wenig zu spüren. Statt eine Charmeoffensive einzuleiten, badet Brüssel den Brexit-Kater aus. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach bei seinem heutigen Auftritt demonstrativ nur noch Französisch und Deutsch; auch Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, gibt sich knallhart gegenüber London. Schüssel hat seine Zweifel, ob dies die richtige Botschaft zum Brexit ist: «Wir müssen kühlen Kopf bewahren und unsere Interessen betonen. Rachegedanken sind fehl am Platz.»
Nun in Alarmismus zu verfallen und den Rückfall in den verheerenden Nationalismus der 1930er-Jahre zu beschwören, sei ebenfalls unangebracht: «Wenig begüterte Schichten beobachten die aufstrebenden Märkte in Asien, die Globalisierung und die Digitalisierung mit Sorge.» Die politische Mitte sei gefordert, darauf Antworten zu finden: «Es nützt nichts, zu verwalten. Kluge Politik besteht nicht aus Umfragewerten.» Stattdessen müssten sich die moderaten Kräfte fragen: «Wofür stehen wir?» Die Antwort darauf müsse den Bürgern auf der Strasse gegeben werden, schliesst Schüssel.