Nach dem Massaker in einem Homosexuellenclub in Florida wird zunehmend deutlich, dass das Verbrechen nicht einfach unter dem Titel «extrem-islamistischer Terrror» abgehakt werden kann. Fragen an Kyle Knight, den Experten für Homosexualität bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in New York.
SRF News: Ist der Täter von Orlando ein islamistischer Terrorist oder ein Verbrecher mit privaten Motiven?
Kyle Knight: Ich glaube, dass diese Frage gar keine so grosse Rolle spielt. Wir müssen auf die Opfer fokussieren. Dieser Mann hat ganz gezielt eine Gruppe Menschen ausgewählt, Homosexuelle in Florida, die sich an einem Ort treffen, weil sie sich dort sicher fühlen. Aus dieser Perspektive ist die ursprüngliche Motivation des Täters nebensächlich. Vielleicht hatte er grosse Probleme mit seiner eigenen Homosexualität, vielleicht gehörte er zu einer militanten islamistischen Gruppierung. Der Punkt ist: Homophobie ist eine persönliche Überzeugung, dass Schwule und Lesben ungleich und weniger wert sind. Der Täter hat diese Überzeugung quasi persönlich ausgedrückt, in dem er sich eine Militärwaffe besorgt hat, in den Club gegangen ist und 49 Personen erschossen hat.
Der Mann soll den Club laut Augenzeugen mehrmals besucht haben, gleichzeitig war er als Homophober bekannt. Wie passt das zusammen?
Es mag überraschen, aber Homosexuelle können sehr wohl homophob sein oder sich zumindest in der Öffentlichkeit so ausdrücken. Es sind ganz persönliche Erfahrungen. Sexualität kann kompliziert sein. Wir wissen ja auch vom Vater des Täters, dass sich dieser offenbar wenige Wochen zuvor fürchterlich über zwei küssende Männer in Florida aufgeregt hat.
Wir wissen auch, dass er sich auf Dating-Plattformen für Schwule aufgehalten und diesen Club besucht hat. Es ist so: Auch wenn man sich zu Gleichgeschlechtlichen hingezogen fühlt, kann man sich dafür hassen. Das passiert in einer Gesellschaft, in der Minderheiten immer noch um ihre Rechte kämpfen müssen, damit sie gleich behandelt werden.
Der Mann mit afghanischen Wurzeln wurde in New York geboren und wuchs dort auf. Welchen Einfluss spielt dieser konfliktbehaftete kulturelle Hintergrund bei der Suche nach Motiven?
Das Ganze kommt zu einer Zeit, in der sich die Politik und die politische Rhetorik in den USA stark polarisiert. Immigration ist zu einem heissen politischen Thema im Wahlkampf geworden, ebenso die Rechte von Homosexuellen oder das Thema Waffen. In diesem Fall kommt das alles zusammen. Das gibt vielen Menschen die Möglichkeit, aufzustehen, um sich zu wehren – gegen Immigration, gegen Islam, gegen Waffen.
Hat dieses Massaker die LGBT-Community in den USA überrascht oder lag so etwas in der Luft?
2015 gab es den Entscheid des Supreme Court zur gleichgeschlechtlichen Ehe, der als riesiger Erfolg gefeiert wurde. Und das war er auch. Aber gleichzeitig wurden in den USA im gleichen Jahr 22 farbige Transgender-Personen ermordet. Im laufenden Jahr sind es bereits deren 14, eine davon wenige Tage vor dem Massaker in Orlando.
Dazu gibt es viele Fragen: Ist es eine Gegenreaktion auf den erzielten Fortschritt? Ist es der Umstand, dass solche tragischen Fälle überhaupt erfasst werden in der Statistik? Oder ist es ein Zeichen, dass Medien über solche Angriffe auf Schwule und Lesben nun berichten und sich die Öffentlichkeit deren eher bewusst wird? All diese Fragen können wissenschaftlich nicht beantwortet werden. Fakt ist: Auch für Homosexuelle ging es in Orlando in erster Linie um Waffengewalt und nicht primär um einen Akt gegen die erzielten Fortschritte für ihre Gemeinschaft.
Konservative Politiker und Medien – alle bringen sie ihre Solidarität zum Ausdruck. Hilft das Massaker am Ende der homosexuellen Gemeinde in den USA?
Es hat auf jeden Fall das Potenzial dazu, allein wegen der Dimension der Gewalt und der weltweiten Reaktionen. Aber wir sehen immer noch, dass gewisse Politiker und auch Medien kein Wort darüber sagen, welche Art von Club das war. So ist von einer fürchterlichen Tragödie in Florida und für die im Club befindlichen Menschen die Rede. Aber man spricht zum Beispiel nicht darüber, dass zwei in dieser Nacht getötete junge Männer heiraten wollten und jetzt zusammen beerdigt werden müssen. Auch im Fernsehen gibt es Interviews mit Überlebenden, doch wird mit keinem Wort erwähnt, dass es Homosexuelle sind.
Ist es also die Bestätigung von Vorurteilen?
Ja, und zwar auf eine sehr willkommene Art und Weise. Die Politiker hätten allerdings die Verantwortung, die Sache beim Namen zu nennen: Es war ein Schwulenclub. Es waren Schwule und Lesben, die hingerichtet wurden. Es ist beunruhigend, dass gewisse Leute das alles immer noch zu beschönigen versuchen.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.