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International Erdoğans geplatzte Träume und die Geister von Gezi

Statt einer gelenkten haben sich die türkischen Wahlberechtigten für eine gelebte Demokratie entschieden. Mit dem Aufstieg der pro-kurdischen Partei HDP wird die politische Landkarte vielfältiger. Die «Generation Gezi» feiert, aber Präsident Recep Tayyip Erdoğan erlebt einen persönlichen Alptraum.

Es war ein angespannter und sogar blutiger Wahlkampf in der Türkei. Immer wieder wurden auf Büros der pro-kurdischen Partei HDP und auf Wahlveranstaltungen Anschläge verübt. Trotzdem hat die HDP die hohe Hürde von 10 Prozent genommen und kann auf Anhieb mit über 70 Sitzen im türkischen Parlament rechnen.

Mit ihrem Einzug ins Parlament haben ausgerechnet die Kurden die Herrschaftsansprüche von Recep Tayyip Erdoğan zerstört. Seinen Traum von der Einführung eines Präsidial-Systems muss er fürs Erste begraben.

«Zurück zu demokratischer Normalität»

Der Ausgang der Wahlen schlägt hohe Wellen, auch international, aber vor allem in der Türkei. «Es war ein einschneidender Tag für das Land», sagt SRF-Auslandredaktorin Iren Meier, nicht nur für Erdoğan, sondern auch für die gesamte türkische Gesellschaft. Eine Mehrheit habe sich für den Weg zurück zu demokratischer Normalität entschieden, und bei vielen Menschen sei ein «Aufatmen» zu vernehmen.

Denn mit dem Wahlerfolg der HDP verbindeten sich mehr als «10 Prozent Hoffnung», wie der «Spiegel» schrieb. «Die Hälfte der Bevölkerung ist erleichtert, dass ‹Superpräsident Erdoğan› verhindert wurde», sagt Meier.

Erdoğan Schweigen

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Die HDP freue sich über ein Traumresultat, das für Erdoğans AKP ein Albtraum sei. «Die AKP hat die Mehrheit massiv verfehlt. Für Präsident Erdogan ist das Resultat eine riesige Niederlage, fast schon eine Demütigung.» Erdoğans Schweigen zur Wahlschlappe sei denn auch bezeichnend, so Meier: «Die Verfassung verpflichtete ihn zu Neutralität im Wahlkampf, er führte sich aber auf wie der Parteichef der AKP.» Nach Erdoğans aggressiv geführtem Wahlkampfgetöse wurde es nun verdächtig still.

Statt zum «Sultan im Weissen Palast» aufzusteigen, wie Spötter frotzelten, muss sich Erdogans AKP nun gutdemokratisch um eine Regierungskoalition bemühen; statt gelenkter Demokratie steht der Türkei nun gelebte Demokratie ins Haus.

Stimmen für die HDP – oder gegen Erdoğan?

Die eigentliche Sensation der Wahlen: Eine Schicht von Türken gab ihre Stimme einer kurdischen Partei: Vor dem Hintergrund des endlosen türkisch-kurdischen Konflikts mit 30‘000 bis 40‘000 Toten sei das sensationell, sagt Meier.

Man müsse aber auch einschränken. Denn viele der Wahlzettel seien auch aus taktischen Gründen für die HDP eingeworfen worden. Also nicht etwa um die pro-kurdische Partei zu stärken, sondern um Erdoğan zu stoppen. Trotzdem sei vor allem bei der jungen, der «Gezi-Generation» eine Öffnung spürbar, so Meier.

Derweil seien die Kurden selbst sehr viel stärker geeint als früher: Die Hälfte wählte bisher die AKP, sei es aus wirtschaftlichen oder religiösen Gründen. Ganze Clans, ganze Dörfer wanderten zur HDP über. Die AKP sei im Südosten der Türkei, im Kurden-Gebiet, «praktisch kollabiert».

Demirtas, der Gegenentwurf zu Erdoğan

Die neue kurdische Einigkeit hat ein Gesicht: Selahattin Demirtas. Der Co-Chef der HDP habe Witz, wirke ruhig und souverän und habe ein jugendliches Auftreten, sagt Meier. Aber vor allem die politische Botschaft mache Demirtas‘ Popularität aus. Er setze auf Integration, nicht Ausgrenzung. HDP heisse übersetzt Demokratische Partei der Völker, sie spreche auch Minderheiten, Frauen und Andersdenkende an.

Zudem vertrete Demirtas‘ die in der Türkei angeschlagenen demokratischen Werte: Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Gewaltentrennung. «Demirtas ist praktisch der Gegenentwurf von Erdoğan.»

Lässt sich Erdoğan die Flügel stutzen?

Wie der Präsident auf die Beschneidung seiner Macht reagiert, ist noch nicht abzusehen. Auch nicht, ob Erdoğan auf seinen lange konstruktiven Kurs zurückschwenken könnte: «Er hat als Premierminister auch positive Dinge angestossen, etwa in der Wirtschaft, die Annäherung zur EU, im Friedensprozess mit den Kurden», sagt Meier.

Es sei aber «symptomatisch, dass er all diese Errungenschaften wieder zerstört hat.» Auch in der Türkei seien viele Beobachter erstaunt ob Erdoğans zunehmend autoritären Führungsstils; auch Iren Meier tut sich schwer mit einer Erklärung, kommt aber zu einer möglichen: «Vielleicht ist einfach so: Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.»

Freude bei den Türken in der Schweiz

Die Türken in der Schweiz, die gewählt haben, gaben zu 49 Prozent ihre Stimmen der pro-kurdischen HDP. Erdoğans AKP kam lediglich auf 23 Prozent. Entsprechend gross ist die Freude bei den Kurden in der Schweiz. «Wir waren überrascht vom Wahlerfolg der HDP, auch wenn wir natürlich gehofft hatten, dass die Partei die Zehn-Prozent-Hürde schaffen würde», sagt Edibe Gölgeli, Präsidentin der schweizerisch kurdischen Gemeinschaft.

«Wir hatten uns im Vorfeld der Wahlen sehr stark für die HDP eingesetzt und nun zeigt sich, dass die HDP in der Schweiz tatsächlich am meisten Stimmen geholt hat. Ich sehe dies sehr positiv. Wir setzen auf Frieden und haben dafür in der Türkei ein starkes Zeichen gesetzt.» HDP-Chef Demirtas habe einen souveränen Wahlkampf geführt und dabei inhaltlich sehr korrekt und in einem tollen Ton gesprochen. «Ausserdem ist die HDP nicht ausschliesslich eine Kurden-Partei, sondern eine türkische Partei, die auch viele Andersstämmige und -gläubige überzeugt hat. Und neben Kurden sind auch viele Frauen sowie Angehörige von Minderheiten wie Aramäer oder Armenier gewählt worden», sagt Gölgeli.

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