Zum Inhalt springen
Ausstellung in Genf
Legende: Der türkische Präsident Erdogan fühlte sich beleidigt durch ein Plakat in einer Ausstellung in Genf. Keystone

International «Erdogan will als grosser Staatsmann in die Geschichte eingehen»

Der türkische Präsident Erdogan befindet sich derzeit auf einem Kriegszug gegen Menschen, die ihn kritisieren. Das tut er an mehreren Fronten, in Genf, in Dresden, in London und vor allem in der Türkei selbst. Das Ziel sind Künstler, Musiker, Journalisten. Warum tut er das?

Thomas Bormann

Box aufklappen Box zuklappen
Porträt Thomas Bormann
Legende: SWR

Thomas Bormann arbeitete zuerst als Reporter für den Hessischen Rundfunk und für die SWR-Nachrichten. Seit 1992 bereist er den Nahen Osten und die Türkei und berichtet von dort. Seit November 2011 ist er als Radio-Korrespondent im ARD-Studio in Istanbul tätig.

SRF News: Führt Erdogan einen eigentlichen Kulturkampf gegen den Westen?

Thomas Bormann: Ich würde sagen, nicht gegen den Westen, sondern gegen alle seine Kritiker, gegen seine Feinde, wie er sie auch nennt. Das hat hier in der Türkei schon vor längerem begonnen. Er lässt kritische türkische Journalisten vor Gericht zitieren. Seit gut 20 Monaten ist er im Amt des Staatspräsidenten und hat in dieser Zeit schon 1800 Beleidigungsklagen angestrengt. Das heisst, jeden Tag lässt er in der Türkei drei Personen neu verklagen. Es ist weniger ein Kulturkampf gegen den Westen, als vielmehr ein Feldzug gegen alle Kritiker.

Am Anfang dieser Kette von Interventionen in Westeuropa stand das Schmähgedicht des deutschen Satirikers Jan Böhmermann. Handelt es sich um eine Affektreaktion Erdogans?

Ja, sicherlich fühlte sich Erdogan auch bestärkt darin, nun auch gegen Kritiker im Ausland vorzugehen. Weil ihm in Deutschland ja die Kanzlerin quasi zuvorgekommen war. Und in einer Art vorauseilendem Gehorsam gesagt hat, das Schmähgedicht sei verletzend gewesen. Eine Äusserung, die Frau Merkel in der Zwischenzeit selbst als Fehler bezeichnet. Möglicherweise hat sie damit geholfen, diese Lawine anzustossen. Das Präsidentenamt in Ankara macht jetzt zusammen mit türkischen Botschaften und Konsulaten in aller Welt eine Art Jagd auf Erdogan-Kritiker.

Erdogan hat keine Chance, aber das verkennt er

Man hört, die türkischen Botschaften, etwa in den Niederlanden, seien angewiesen, über Verunglimpfungen des Staatspräsidenten nach Ankara zu rapportieren. Stimmt das?

Es gab im türkischen Konsulat in Rotterdam eine E-Mail an alle türkischen Organisationen im Süden der Niederlande, doch bitte Beleidigungen des Staatspräsidenten zu melden. Eine niederländische Journalistin, die darüber eine Glosse in einer niederländischen Zeitung geschrieben hat, ist derzeit in der Türkei und darf das Land nicht verlassen. Sie hat nicht nur einen niederländischen, sondern auch einen türkischen Pass. Sie war gerade in ihrem Ferienhaus, als am vergangenen Samstagabend plötzlich die Polizei vor der Tür stand und sie für zwölf Stunden festnahm.

Mehr zum Thema

Versteht Erdogan nicht, dass es im Westen Grundrechte wie die Meinungsfreiheit gibt, respektiert er das nicht? Er hat ja keine Chance.

Nein, er hat keine Chance, aber das verkennt er. Ihm ist das auch egal. Er setzt vor allem darauf, seine Macht in der Türkei auszubauen. Er möchte, dass die Verfassung geändert wird, dass dem Präsidenten die zentrale Macht zuteil wird. Darauf ist er aus und er will die sogenannte neue Türkei aufbauen. Und er will als ganz grosser Staatsmann in die Geschichte der Türkei eingehen.

Ist es ein Zufall, dass dieser Kulturkampf mit dem Abschluss des Flüchtlingspaktes begann?

Ich denke, nicht ganz. Denn mit diesem Pakt hat die Türkei gespürt, dass sie plötzlich gebraucht wird. Dass er nicht mehr als der Bittsteller aus dem armen Südosteuropa kommt, sondern dass er auf Augenhöhe mit der ganzen EU verhandeln kann. Insofern testet Erdogan jetzt seine Macht aus. Eben auch vor deutschen Gerichten, in den Niederlanden, auch in der Schweiz mit dem Vorgehen gegen diese Ausstellung. Überall will er sich durchsetzen.

Erdogan ist ein Mensch, der überhaupt keine Kompromisse schliessen mag.

Nun sucht die Türkei den Weg in die EU. Sie machte die Wiederbelebung der Gespräche über eine EU-Mitgliedschaft zur Bedingung für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise. Macht Präsident Erdogan diese Pläne für einen EU-Beitritt nicht gerade zunichte?

Sicherlich. Aber viele Erdogan-Kritiker sind sich sicher, dass gar nicht in die EU will. Denn die EU würde bedeuten, dass man Kompromisse schliessen muss, dass man sich mit 28 anderen Ländern abstimmen muss. Erdogan ist ein Mensch, der überhaupt keine Kompromisse schliessen mag und schon gar nicht irgendwelche Souveränität an supranationale Organisationen abtreten will. Deshalb gibt es den Verdacht, dass er eine Ausweitung der Beitrittsverhandlungen einfach nur deshalb fordert, um auf Augenhöhe mit der EU zu sprechen, um die Visafreiheit so schnell wie möglich durchzusetzen und damit bei den 78 Millionen türkischen Bürgern zu punkten.

Gefällt den Türkinnen und Türken die Machtpolitik ihres Präsidenten in Westeuropa?

Vielen gefällt sie tatsächlich. Deshalb wurde er gewählt. Aber Erdogan polarisiert. Und es gibt viele Leute, die entsetzt sind über seine Aussenpolitik und darüber den Kopf schütteln. In dieser Frage ist die Türkei gespalten.

Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.

Meistgelesene Artikel