Flüchtlings-Odyssee nach Deutschland
Braunau am Inn. Direkt an der deutsch-österreichischen Grenze. Hier wurde Adolf Hitler geboren. Doch in diesen Tagen macht Braunau Schlagzeilen, weil hier in bloss 40 Minuten sechs Busse mit jeweils mindestens 50 Flüchtlingen ankommen. Dolmetscher, österreichische Polizei und das Rote Kreuz nehmen die Busse in Empfang, bieten den Ankömmlingen Unterkunft und Verpflegung an.
Die meisten wollen nach Deutschland
Doch die meisten wollen nicht in Österreich bleiben, sie wollen weiter nach Deutschland. Nur ein paar hundert Meter weiter, auf der anderen Seite der Brücke – dort sei «Germany», sagt ihnen der Dolmetscher bereitwillig. «Ihr müsst tun, was euch die deutsche Polizei sagt», fährt er fort. Manchmal gibt es sogar Schilder, die den Weg weisen.
Die Flüchtlinge kommen per Zug und Bus direkt von der ungarischen Grenze. Das bestätigt David Furtner, Pressesprecher der Landespolizeidirektion Oberösterreich in Linz am Telefon. Die meisten Personen seien registriert, betont er.
Nach österreichischem Fremdenpolizeirecht könne Österreich die Flüchtlinge höchstens 48 Stunden festsetzen und das wäre unmenschlich. Furtner findet, dass das die Deutschen schon schaffen. «Österreich könnte diese grosse Zahl an Flüchtlingen gar nicht bewältigen», sagt er. Deutschland sei zehn Mal grösser als Österreich. «Deshalb gehen wir davon aus, dass die deutsche Gesellschaft das gut macht.»
Staatlich organisiertes Schleusertum?
Auf der anderen Seite – in Deutschland – spricht man von staatlich organisiertem Schleusertum der Österreicher. Darob gibt's in Braunau nur Schulterzucken. «Merkel hat gesagt: ‹Kommt alle rüber, alle bekommen ein Visum›», sagt eine Passantin in Braunau.
In Simbach auf der deutschen Seite des Inn in Bayern bauen Polizisten provisorische Zelte auf, Arbeiter planieren hektisch ein Stück Rasen. Bis am Abend soll hier ein Betonfundament für eine Unterkunft gelegt werden. Es ist kalt. Die Flüchtlinge warten und wissen nicht, was passiert, ob sie hier übernachten müssen.
Eine Frau will zu Verwandten nach Berlin. Ein deutscher Beamter versucht ihr auf Englisch zu erklären, dass es noch heute per Bus weitergehe – zunächst aber bloss in ein Camp in der Nähe.
Einen Kilometer weiter befindet sich eine provisorische Unterkunft. Sie ist in prekärem Zustand: Ein grosser, dunkler Raum, einige Matten auf dem Boden. Die Bundespolizisten sind gestresst und erschöpft. «Wir sind mindestens zwölf Stunden am Stück hier», sagt einer.
1000 neue Betten pro Tag
Allein im September kamen 225'000 Flüchtlinge nach Bayern. 34'000 von ihnen muss Bayern behalten und irgendwo unterbringen. Das sind rund 1000, für die in Bayern jeden Tag ein Bett organisiert werden muss. «Es gibt keine Betten, keine Container, keine Zelte», sagt Christian Berenreiter, der Landrat des Landkreises Deggendorf, an einem Krisentreffen aller Landräte.
Jetzt kämen Traglufthallen zum Einsatz. «Das ist ein Riesenaufwand, bis das alles steht», fährt er fort. Bis Weihnachten sollen neun Traglufthallen aufgebaut werden mit insgesamt 2700 Plätzen. «Das reicht für zwei Tage. Das muss man mal deutlich machen.»
Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer ist beim Krisentreffen in Deggendorf. Er wirkt erschöpft. «Die Verantwortung liegt beim Bund. Ich kann nur sagen: Ich möchte diese Verantwortung jetzt nicht mehr tragen.» Er werde alles tun, was in seiner Macht stehe – «für die Menschen, auch wenn wir die politische Entscheidung nicht teilen.»
Jeder wird registriert
Deutschland ist in Europa quasi «the last man standing». Versuchen die Ungarn mit Brachialgewalt die Kontrolle zu behalten, versucht es Deutschland mit Organisation und Verwaltung. Aber es kommt vor, dass Busse mit Flüchtlingen nach einem Raststopp leer weiterfahren. Dass alle Menschen an Bord abgehauen sind, zu Verwandten nach irgendwo.
In Passau, wo Donau, Inn und Ilz zusammenfliessen – der Ort trägt den Beinamen «Bayerisch Venedig» – werden am Bahnhof Fingerabdrücke genommen. Wenn es rot aufleuchtet, ist der Mann polizeilich gesucht. Aber weil die Internetverbindung nicht immer funktioniert oder nur langsam, ist der Betreffende in Einzelfällen auch schon mal weg, bevor es rot aufleuchtet.
Auf dem Perron steht ein Zug, der Flüchtlinge nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt bringen soll. Es kommt zu folgendem Dialog. Ein junger Mann fragt, wohin der Zug fährt, er möchte nach Schweden. «Das ist aber der Zug nach Bitterfeld», sagt ein Helfer. Wann denn der Zug nach Schweden fahre, fragt der junge Mann. «Keine Ahnung, zuerst müssen Sie nach Bitterfeld», ist die Antwort.
Kontrolle über den Flüchtlingsstrom
Deutschland hat die Kontrolle über den Flüchtlingsstrom noch nicht erlangt. Aber in Passau ist die Lage schon viel geregelter. Im Keller einer Erstunterbringung lagern gespendete Kleider, gestapelt nach Grösse und Geschlecht. Die Flüchtlinge können sich die Kleider aussuchen, Studenten haben alles organisiert.
Wenn Flüchtlinge aufgegriffen werden, erhalten sie Essen und Trinken, eine erste Unterkunft, danach werden sie registriert. Es sind nicht nur Syrer, die kommen. Immer mehr sind es auch Menschen aus Afghanistan. Die Flüchtlinge werden nach ihrem Ziel gefragt, ihr Gesundheitszustand gecheckt. Die meisten, vor allem die Männer, werden auch polizeilich erfasst. Es ist der Versuch, die Kontrolle über den Flüchtlingsstrom zu gewinnen.