Sie sitzen auf feuchten Holzplanken, die Mützen tief in die Stirn gezogen, eine Wolldecke über den Beinen. Regen trommelt auf das grosse, blaue Zelt, das die Pfadfinder den Obdachlosen des Durbar Platzes in Kathmandu zur Verfügung gestellt haben.
Die 30-jährige Namrita war eben dabei ihrer Mutter Insulin zu spritzen, als der Boden am Samstag zu beben begann. «In unserem Haus stürzte das Dach ein. Wir stellten uns unter den Türrahmen. Das hat uns gerettet, aber wohnen können wir in dieser Ruine nicht mehr. Und unser Geld liegt nun irgendwo unter den Trümmern. Jetzt leben wir von Keksen und Nudeln», sagt Namrita.
Verängstigte, ermüdete Überlebende soweit das Auge reicht
Sie haust nun mit Dutzenden von anderen Obdachlosen im Zelt der Pfadfinder. Vom Zelteingang aus sieht man auf die Zerstörung: Der historische Palast ist teilweise eingestürzt, genauso wie andere, alte Gebäude und Tempel. Schutthaufen aus zerschlagenen Ziegeln, vermengt mit Holzsplittern, erinnern an die einstigen Touristenattraktionen auf dem Platz. Doch Touristen sind weit und breit nicht mehr zu sehen, nur verängstigte, ermüdete Überlebende.
Wie weiter?, fragt sich Namrita. «Niemand hilft uns und wir sind hier mit Alten und Jungen zusammengepfercht. Und das Schlimmste ist: Ich kann meine Tochter nicht finden. Sie war zurzeit des Bebens ausser Haus und ist nicht mehr zurück gekommen.»
Freiwillige reisen an
Nicht nur in den Aussenbezirken, sondern auch in der Hauptstadt Kathmandu seien bislang längst nicht alle Verschütteten gefunden und ausgegraben worden, sagen drei 18-jährige Ingenieurs-Studenten mit Mundschutz. Sie stehen vor einer Ambulanz und warten darauf, dass es aufhört zu regnen, damit sie wieder arbeiten können.
«Wir sind hierhergekommen, um den Leuten zu helfen und die Verschütteten auszugraben. Das ist harte Arbeit, vor allem die schweren Holzbalken in den Trümmern zu beseitigen. Wir graben mit Händen und Schaufeln und hoffen, auf Lebende zu stossen, nicht auf Tote.»
Eine Stadt in Schockstarre
Gestern hatten die jungen Studenten allerdings kein Glück. Die fünf Personen, die sie ausgruben, waren alle tot. Wie eine Stadt in Schockstarre wirkt Kathmandu jetzt wenige Tage nach dem Erdbeben: Warten auf das nächste Beben. Dutzende von Nachbeben gab es bereits. Alle Läden sind verschlossen, die Strassen sind unüblich leer, nur auf den offenen Plätzen reihen sich die Zelte der Obdachlosen und Verängstigten aneinander. Von der Regierung hätten sie bislang kaum Hilfe bekommen, sagen sie.
Aber Hilfe gibt es. Auf dem Durbar Platz verteilen Freiwillige an diesem Nachmittag Essen und Wasser an die Zeltbewohner. Es ist eine spontane Aktion aus spontaner Anteilnahme. Denn obwohl die Regierung den Notstand ausgerufen hat: in Kathmandu wird nicht geplündert und in den Strassen stehen kaum Polizisten. Solidarität, nicht blinder Überlebenswahn herrscht vor.
Meine Familie wurde verschont, deshalb dachte ich: Lass mich anderen helfen. Dann rief ich einen Freund und der rief seine Freunde an. Jetzt sind wir alle hier.
Auch in der Notfallaufnahme eines Regierungsspitals eilen freiwillige Helfer geschäftig hin und her, fahren Verletzte in Rollstühlen in die überfüllte Aufnahme oder bitten Gesunde um eine Blutspende. Die meisten Freiwilligen sind keine Ärzte, sondern einfach verantwortungsvolle Bürger. So bezeichnet sich auch der 29-jährige Anel Pradhan, der die Freiwilligen koordiniert. Er ist eigentlich Werbefachmann im Hotel Hyatt.
Aber er sagt: «Meine Familie wurde verschont, deshalb dachte ich: Lass mich anderen helfen. Dann rief ich einen Freund und der rief seine Freunde an. Jetzt sind wir alle hier.»